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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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und Meer sich ineinander spiegeln, bis oben und unten ihre Bedeutung verlieren und die Milchstraße aussieht wie der Schaum einer sich brechenden Welle, wo der Erdball wie ein Schiff inmitten der fallenden und steigenden Brandung des Sternenhimmels rollt und die Sonne nur noch ein kleiner glühender Punkt im Meeresleuchten der nächtlichen See ist.
    Ich wurde von Rastlosigkeit und Sehnsucht nach dem Unbekannten erfasst. Es besaß etwas Rücksichtsloses. Vielleicht hatte Jack Lewis dieses Gefühl gemeint, als er von der Abenteuerlust sprach, mit der die Jugend die ganze Welt bereisen soll. Es war eine Mystik, die von der unendlichen Fläche des Stillen Ozeans ausging, und mein papa tru musste sie irgendwann einmal gespürt haben. Und wer sie erst einmal gespürt hat, kehrt nie mehr zurück.
     
    Ich erinnerte mich an einen Sommerabend zu Hause am Strand. Der Wind hatte sich gelegt, und das Wasser war ganz ruhig. In der Dämmerung nahmen das Meer und der Himmel die gleiche veilchenblaue Farbe an, und der Horizont verschmolz. Der Strand blieb der einzige Halt für die Augen, und es schien, als wäre der weiße Sand der äußerste Rand der Erde. Genau auf der anderen Seite begann der endlos blaue Himmelsraum. Ich zog mich aus. Als ich den ersten Zug tat, war es, als würde ich hinaus ins Universum schwimmen.
    In dieser Nacht auf dem Stillen Ozean hatte ich das gleiche Gefühl.
     
    Die Flying Scud roch von vorn bis achtern nach Kopra, aber das war nichts Besonderes. Getrocknete Kokosnüsse waren die wichtigste Handelsware in dieser Gegend. Da ich Jack Lewis’ Ruf kannte, kam ich auf den Gedanken, dass der Koprageruch lediglich etwas anderes überdecken sollte. Es war nicht Kopra, durch die sich Jack Lewis seinen Ruf
erworben hatte. Aber was es sein könnte, konnte ich mir nicht vorstellen.
    Anthony Fox hatte den Begriff «Menschenhandel» benutzt. Ich erwähnte es Jack Lewis gegenüber, der diesmal nicht in seiner gewohnt direkten Art antwortete.
    «Ich tue, was Seeleute tun», sagte er, «ich bringe Dinge an die Stellen, wo sie gebraucht werden. Die Welt ist, wie sie ist. Ich mache sie weder besser noch schlechter.»
    «Sklavenhandel?», fragte ich.
    «Solltest du es nicht wissen, dann darf ich dich darüber aufklären, dass Sklavenhandel in diesem Teil der Welt verboten ist. Ich bin ein gesetzestreuer Mann.»
    Den letzten Satz sagte er mit einem schiefen Lächeln.
    «Plantagenarbeiter?», setzte ich meine Fragen fort.
    Es war bekannt, dass es einen regen Verkehr von Kanaken gab, die mit Geldversprechen auf die großen Plantagen gelockt wurden, dort aber kein Geld verdienten, sondern in bodenlosen Schulden ertranken. Die Plantagenbesitzer besaßen alles, auch die Häuser, in denen ihre Arbeiter zur Miete wohnten, und die Läden, in denen sie ihre Lebensmittel kauften. Ihr Vertrag war vielleicht auf zwei Jahre begrenzt, doch stattdessen hatten sie am Ende zehn Jahre gearbeitet, bevor sie ohne Geld und ausgemergelt auf die Inseln zurückkehrten, von denen sie irgendwann einmal gekommen waren, wenn sie überhaupt jemals den Weg zurück übers Meer fanden.
    Jack Lewis schüttelte den Kopf.
    «Ein amüsantes Ratespiel haben wir da begonnen. Aber glaub nicht, dass du von mir eine Antwort erhältst. Du bist kein praktischer Mann. Du hast doch dein empfindsames Gewissen, und wenn man so etwas hat, ist es am besten, taub zu sein.»
     
    Jack Lewis löste mich immer pünktlich um Mitternacht ab, wenn die Hundewache begann. Zuerst wunderte ich mich darüber, doch ich dachte, vielleicht war es eine verborgene Seite von ihm, und er wäre gern allein mit den Sternen.
    An einem warmen Abend, an dem die Seile schlapp herunterhingen und die Milchstraße sich in der regungslosen Fläche des Meeres spiegelte,
so dass der Unerfahrene glauben mochte, der weiße Sternenschimmer sei Brandung, die sich an einem verborgenen Riff brach, holte ich mein Schlafzeug, um mich auf Deck zu legen.
    Jack Lewis’ Stimme war scharf, als er mir befahl, wieder zu verschwinden.
    «Ein Kanake kann auf Deck schlafen. Für einen weißen Mann gehört sich das nicht.»
    Ich blieb unentschlossen stehen, weil ich keine Lust hatte, unter Deck in die stickige Kajüte zu gehen.
    «Bleib hier an der frischen Luft.»
    Jack Lewis’ Stimme wurde versöhnlicher. Ich hörte ihr an, dass er sich gern unterhalten wollte. Ich setzte mich auf die Bordwand. Abgesehen vom Knirschen des Riggs, herrschte absolute Stille.
    «Ich habe dich angelogen», sagte Lewis.
    Er kicherte in

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