Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
Zu spät fiel ihr ein, dass alle Gespräche von außerhalb über die Telefonzentrale im Haus Diamant gingen.
»Hier steht eine ältere Dame mit einem Rollator und möchte etwas kaufen, aber ich weiß nicht was«, erklärte der Eisenwarenhändler der Frau am anderen Ende der Leitung. Vergeblich hatte Märtha versucht, ihn von der Fortsetzung des Gesprächs abzuhalten, aber Schwester Barbro hatte sofort durchschaut, dass jemand aus dem Heim ohne ihre Erlaubnis unterwegs war. So wurde entschieden, die Schlösser im Haus Diamant in der kommenden Woche auszutauschen, und Märtha heulte wie ein Schlosshund an Snilles Schulter. Sie dachte, jetzt sei alles vorbei.
»Aber kleine Märtha, sei doch nicht traurig. Jetzt fangen wir unser neues Leben als Verbrecher an. Wir müssen nur schnell machen, bevor sie an der Haustür ein neues Schloss einbauen.«
Und dann setzte er sich an den Computer.
»Wir wollten uns doch die reichen Leute vornehmen, hast du gesagt. Die gibt’s hier«, grinste er und öffnete die Homepage des Grand Hotels. »Jetzt buchen wir.«
»Grand Hotel?« Märtha schluckte. Von einer Bauernstube bei Brantevik über eine Zweizimmerwohnung in Södermalm zu einem … Luxushotel? Ihre Eltern hatten immer gesagt, man solle mit dem zufrieden sein, was man hatte … Sie schluckte und sagte:
»Ja natürlich, das Grand Hotel.«
»Dann bestellen wir das Festtagspaket mit Blumenarrangement, Champagner und Obst für alle, damit wir uns wohl fühlen.«
»Und frische Erdbeeren?«
»Aber natürlich«, fuhr Snille enthusiastisch fort, aber stockte mit einem Mal. »Hast du schon darüber nachgedacht, was wir machen, wenn es Stina und Anna-Greta im Hotel zu gut gefällt? Und sie vielleicht gar nicht mehr ins Gefängnis wollen?.«
»Das Risiko müssen wir eingehen«, antwortete Märtha. »Aber ich habe gehört, dass einem zu viel Luxus irgendwann langweilig werden kann.«
Snille scrollte weiter über den Bildschirm, und nach kurzer Zeit hatte er sie in die Luxussuiten des Hotels eingebucht und fünf Festtagspakete bestellt. Märtha verspürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch.
»Wir haben jetzt noch genau achtundvierzig Stunden«, sagte Snille und schaltete den PC aus. »Am Montag kommt der Schlosser, dann müssen wir draußen sein.«
Als die Angestellten am Sonntagabend das Heim verlassen hatten, schlichen die fünf mit ihren Gehstöcken und Rollatoren aus dem Haus. Dass es gerade Anfang März und der Himmel grau war und nun auch Schneeflocken durch die Luft wirbelten, machte ihnen nichts aus. Jetzt wartete ein ganz neuer abenteuerlicher Lebensabschnitt auf sie. Märtha schloss die Kellertür und drehte den Schlüssel um. Dann presste sie die Lippen aufeinander und erhob die geballte Faust gegen das Haus Diamant.
»Ihr Schufte! Den Weihnachtsschmuck einzukassieren, das ging zu weit. Hört ihr!«
»Was hast du gesagt?«, fragte Anna-Greta, die es ja mit den Ohren hatte.
»Der Geiz hat’s genommen, der Teufel bekommen.«
»Ach so, der«, antwortete Anna-Greta.
»Jetzt müssen wir zusehen, dass wir ein Taxi kriegen«, erklärte Märtha, während sie ihren Wintermantel fest um den Körper zog und zum nächsten Taxistand voranschritt.
Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Grand Hotel. Als sie bezahlt hatten und auf den Eingang zuliefen, hielt Märtha inne. Andächtig sah sie an dem antiken Bauwerk hinauf.
»Welch’ phantastisches Gebäude«, staunte sie. »Schade, dass man heute nicht mehr so baut.«
»Als Erstes müsste man aufhören, Architekten auszubilden«, meinte Kratze. »Mir will nicht in den Kopf, warum man jahrelang studieren muss, um am Ende viereckige Klötze zeichnen zu können. Ich konnte das schon im Alter von vier. Und schöner waren sie auch.«
»Dann hättest du vielleicht Architekt werden sollen?«
»Willkommen im Grand Hotel!« Ein geschniegelter Butler unterbrach ihr Gespräch und machte einen Diener.
»Oh, vielen Dank«, antwortete Märtha und versuchte, souverän zu lächeln. Doch so sehr sie sich auch bemühte, in ihrer Stimme war die Unsicherheit nicht zu überhören. Schließlich war sie gerade auf dem Weg, kriminell zu werden, und auf der Flucht war sie auch. Das war in ihrem Alter schon ziemlich anstrengend.
9
Die Rollatoren fuhren sanft und lautlos über den Teppichboden bis zur Rezeption. Völlig hingerissen bestaunte Märtha die dunkelblaue Borte mit den hübschen Goldkronen darauf. Sie musste an all die Könige denken, die vor ihr an diesem Ort gewesen waren.
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