Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
nahm all ihren Mut zusammen, stellte sich hin und sang My Way in einer ganz persönlichen Version, die sie mit sehr originellen Gesten unterstrich. Danach gab es wohlwollenden Applaus, aber als sie mit der schwedischen Nationalhymne fortfahren wollte, schlug Märtha vor, dass sie noch woanders hingehen könnten. Anna-Greta protestierte lautstark, doch als Märtha ihr zuflüsterte, dass an der Bar mit Sicherheit einige Witwer warteten, lenkte sie ein. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk höher.
Schwester Barbros Wangen glühten, und sie war schweißgebadet nach ein paar Stunden mit Direktor Mattson in der Kabine. Sie hatte gedacht, er würde sie auf eine Reise nach Europa mitnehmen und ein paar Tage mit ihr in einem Luxushotel verbringen, stattdessen wurde daraus eine gewöhnliche Überfahrt mit der Silja Serenade nach Helsinki. Das hatte sie ziemlich enttäuscht, doch nachdem er ihr die Gründe erläutert hatte, beruhigte sie sich.
»Versteh doch, Liebling, auf einem Linienflug ist das Risiko zu groß, dass ich auf meine Kollegen treffe. Hier auf dem Schiff sind wir ganz sicher ungestört und unter uns.«
Mit diesen Worten hatte er sie umgarnt. Dass sie für ihn so eine wichtige Rolle spielte, machte sie glücklich. Das konnte nichts anderes heißen, als dass er mit der Zeit auch ans Heiraten dachte. Bald, sehr bald schon, wäre sie am Ziel. Er schien ihr völlig verfallen zu sein. Nachdem sie gegen halb fünf an Bord gegangen waren, hatten sie auf direktem Wege die Kabine aufgesucht. Jetzt war es bereits nach acht, und es war ihnen völlig entgangen, dass die Silja Serenade in der Zwischenzeit abgelegt hatte.
»Was meinst du, wollen wir uns in der Bar vielleicht einen Drink genehmigen und eine Kleinigkeit essen?«, schlug sie vor, als der Hunger sich bemerkbar machte.
»Dann sollten wir schnell machen«, sagte er und zog sie wieder an sich. »Mein süßes, kleines Schätzelein.«
Sie spürte, dass sie die Worte, die ihr lange schon auf der Zunge lagen, kaum noch zurückhalten konnte. Lass dich scheiden und heirate mich!, hätte sie am liebsten geschrien, doch sie konnte sich noch beherrschen. Sie musste die richtige Gelegenheit abpassen. Vielleicht waren ein oder zwei Drinks an der Bar keine schlechte Grundlage.
Die fünf ausgebüchsten Alten standen mit einem Drink in der Hand an der Theke und sahen hinüber auf die Tanzfläche. Einige Paare tanzten bereits, und Märtha fragte sich, ob sie ein Tänzchen wagen sollten, denn nach dem Training im Fitnessraum fühlte sie sich richtig rüstig. Sie hörte das Lachen ihrer Freundinnen und musste daran denken, wie sehr sie sich verändert hatten. Es war erst ein paar Monate her, dass sie saft- und kraftlos herumsaßen. Jetzt waren sie ein lebenslustiger Haufen, und sogar Anna-Greta schien guter Dinge zu sein. Ab und zu stach ihre Stimme durch das Getöse und übertönte alles, aber sie klang fröhlich, und das war die Hauptsache. Märtha fiel ein, was sie ihr gegenüber am frühen Abend angedeutet hatte.
»Anna-Greta, nimm es mir nicht übel, aber das, was du vorhin angesprochen hast …«
»Ja?«
»Sprich nicht ganz so laut und verkneif dir das laute Lachen. Männer haben es lieber, wenn man sie selbst sieht und hört.«
Märtha wunderte sich über sich selbst, wie sie so direkt sein konnte, doch sie meinte es ja nur gut. Dann hatte sie Anna-Greta zur Damentoilette mitgenommen. Dort hatte sie ihr einen Lippenstift in die Hand gedrückt und ihre Frisur ein bisschen aufgepeppt. Nach gutem Zureden hatte sie Anna-Greta bewegen können, den Knoten im Nacken zu lösen. Als ihr Haar schräg über die Stirn fiel, sah sie gleich viel anziehender aus. Und der Rock und die Schalkragenbluse, die Märtha ihr geliehen hatte, standen ihr gut. Doch dann war Anna-Greta wieder in ihre Unarten zurückgefallen. Während sie sich mit einem älteren Herrn unterhielt, war ihre Stimme im Eifer des Gefechts wieder durchdringend schrill geworden. Und sie sprach lauter und lauter. Märtha schüttelte den Kopf. Bald würde er aufgeben. Doch die Zeit verging, und der Mann machte keinerlei Anstalten zu gehen. Stattdessen standen die zwei dicht beieinander und redeten, und als Anna-Greta in ihr klassisches Wiehern ausbrach, schreckte er nicht einmal zurück. Ob Anna-Greta auf einen Seelenverwandten gestoßen war? Was nicht alles passieren konnte, wenn man nur die Isolation des Altersheims überwand. Märtha fand es unglaublich, wie viel sie bereits erlebt hatten, seit sie in
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