Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
Dann folgten sie den Menschentrauben, die zu den Aufzügen strömten. Gerade als sie den Verschlag erreichten, heulte der Motor auf, und das Schiff legte an. Märtha und Snille tauschten schnell einen Blick. Die schwarzen Einkaufstrolleys standen noch an Ort und Stelle. Die fünf warteten einen Moment, bis das Boot angelegt hatte und das Schiffspersonal begann, die Fahrzeuge herunterzuwinken. Dann griffen Märtha und Snille nach ihren Rollatoren und gingen langsam zum Ausgang, während die anderen mit den Einkaufstrolleys hinausschoben. So spazierte das Grüppchen über die Rampe vom Schiff. Niemand hielt sie auf, niemand rief ihnen hinterher. Aber wären sie angehalten worden, dann hatte Märtha auch für diesen Fall vorgesorgt. Sie hätte verlangt, mit der Geschäftsführung zu sprechen. Dort hätte sie sich dann beschwert, wie miserabel man als alter Mensch hier behandelt wurde – und keine Reederei konnte es sich leisten, wegen Altersfaschismus in die Schlagzeilen zu geraten. Oder Diskriminierung von Senioren, wie man heute sagte.
Als sie unten am Kai angelangt waren, fiel die Spannung von ihnen ab, denn alle waren überzeugt, dass es nicht so schwierig werden könne, das Lösegeld abzuholen. In der Markthalle kauften sie Rote Wurst, Schinken und finnischen Schweizerkäse, und dann fuhren sie mit der holprigen Straßenbahn in die Innenstadt. In der Konditorei von Fazer tranken sie eine Tasse Kaffee, aßen ein Sandwich und kauften Gebäck. Zum Abschluss ihres Stadtbummels landeten noch Lakritze, Kinuski – die finnische Karamellsoße – und eine Flasche Moltebeerenlikör in ihrem Gepäck.
»Müssen wir das Lösegeld denn jetzt abholen? Können wir das nicht später tun?«, fragte Stina, die langsam nervös wurde. Auf dem Rückweg wollten sie das Geld mitnehmen, und mit diesem Schritt wären sie dann unwiderruflich waschechte Verbrecher geworden.
»Wie gesagt, in unserem Alter gibt es kein ›später‹. Das hatten wir doch schon«, brach Märtha die Diskussion ab. Sie merkte, dass sie jetzt durchgreifen musste. Was sie brauchten, war Geschlossenheit. »Im Übrigen habe ich gesehen, dass es auf dem Schiff belgische Schokolade gibt. Die könnten wir doch noch kaufen.«
Mehr war nicht nötig, um Stina auf andere Gedanken zu bringen.
Sie gingen wieder an Bord, Märtha hakte ihre Freundin unter, und so wanderten sie gemeinsam zum Shop. Dort kaufte Märtha fünf Schachteln belgische Schokolade für sie, und während sie in der Schlange an der Kasse standen, ging ihr alles noch einmal durch den Kopf. Wenn die Fähre in Stockholm anlegte, sollten dort zwei gleiche Einkaufstrolleys stehen, die aussahen wie ihre im Verschlag. Zwei, die sie gegen ihre eigenen austauschten … Der einzige Unterschied wäre das kleine Löchlein, das Snille für die Abstandshalter hineingebohrt hatte – ein Loch, das so winzig war, dass es niemand außer sie selbst zur Kenntnis nehmen würde.
»Hier ist die Schokolade, jetzt ruh dich eine Weile aus. Dann treffen wir uns in einer Stunde in meiner Kabine und genehmigen uns vor dem Essen noch einen Drink«, sagte Märtha und hielt Stina die Tüte hin. Die Freundin drückte das Geschenk fest an ihre Brust, bedankte sich und tat, was Märtha sagte.
Als Märtha und Snille etwas später zum Verschlag auf dem Autodeck schlichen, hätte sie gern nach seiner Hand gegriffen, doch sie riss sich zusammen. Es war sowieso keine Hand mehr frei, denn sie hatten die Einkaufstrolleys und ihre Regenschirme dabei. Langsam und vorsichtig bewegten sie sich in Richtung der kleinen Nische vor der Rampe, und als sie fast angekommen waren, öffneten sie ihre Regenschirme. (Denn Snille hatte gemeint, dass die Überwachungskameras mit Sicherheit alles aufzeichneten.) Am Verschlag hielten sie an und holten ein paar Male tief Luft. Märtha wagte kaum hinzusehen … Dort lagen die Regenkleider, die Stiefel und … ja, ganz hinten in einer Ecke standen zwei neue, schwarze Einkaufstrolleys von Urbanista, genau wie ihre eigenen … Nun blieb nur noch die Frage offen, ob das Museum darin auch tatsächlich die zehn Millionen deponiert hatte … Eine ordentliche Sonderzahlung zu ihrer Rente, wie Märtha es nannte. Und eine der wenigen Transaktionen, für die die Bank keine Gebühren nehmen konnte.
Am liebsten hätte sie die zwei Einkaufstrolleys sofort einkassiert, aber sobald sie sie in die Kabinen mitgenommen hätten, hätte man sie verfolgen können. Also musste die Sache etwas diskreter ablaufen.
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