Wir Genussarbeiter
pseudoasketischer Lebensweisheiten, die Verzicht und Enthaltsamkeit predigen. Jedem zeitgenössischen Kochrezept korrespondiert ein Diätvorschlag; jeder Metzgerei ein Reformhaus; jeder Werbung für ein neues Nahrungsmittel ein Medikament gegen ›Völlegefühle‹ oder Gastritis.«
Während weltweit Millionen von Menschen hungern und ums nackte Überleben kämpfen, haben wir das Luxusproblem ständiger Nahrungsmittelüberverfügbarkeit, die den Verzicht notwendig und durchaus auch attraktiv macht. Wer einen
letzten Rest auf dem Teller lässt, wer lieber weniger als mehr isst, zeigt damit seine Souveränität, seine Selbstbestimmtheit, seine Diszipliniertheit und nicht zuletzt auch seine Schichtzugehörigkeit an. Mit den All-you-can-eat-Essern, denen der Spätkapitalismus durch Flatrate-Angebote unaufhörlich das Maul stopft, hat der gesundheitsbewusste Wellness-Genießer nichts zu tun. Gierig sind die anderen, die aus den unteren Lagen der Gesellschaft, die Colatrinker, Pornogucker und Fastfood-Konsumierer. Und um sich von ihnen abzugrenzen, übt der gehobene Mittelschichtler sich in vornehmer Entsagung. Dass allerdings ein solches Verhalten zugleich auch seelische Verarmung bedeutet oder zumindest bedeuten kann , daran lassen die Philosophen Horkheimer und Adorno keinen Zweifel. Odysseus, so schreiben sie, stellt ein Selbst vor, »das immerzu sich bezwingt und darüber sein Leben versäumt […] Er […] kann nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion«.
Doch greifen wir nicht vor. Denn zunächst einmal ist nicht von der Hand zu weisen, dass Genuss in gewisser Hinsicht durchaus die Fähigkeit zur Entsagung und Selbstkontrolle voraussetzt. Hätte Odysseus sich nicht an den Mast binden lassen, er wäre verloren gewesen. Der lebensgefährlichen Versuchung standhalten konnte er nur, indem er seinen Leib bezähmte. In der Tat ist unkontrollierter Genuss gefährlich nah an der Sucht, weshalb es unter Umständen sogar lebensnotwendig ist, auf manche Annehmlichkeit zu verzichten – so verlockend sie auch erscheinen mag. Wir entscheiden uns, das wusste bereits der antike Philosoph Epikur, »nicht schlichtweg für jede Lust, sondern es gibt Fälle, wo wir auf viele Annehmlichkeiten verzichten, sofern sich weiterhin aus ihnen ein Übermaß von Unannehmlichkeiten ergibt«.
Darüber hinaus ist der Ungezügelte unfähig, das Objekt seines Begehrens in seiner ganzen Schönheit zu erkennen. Man denke nur an den überhasteten Geschlechtsakt, bei dem sich Liebende im Grunde keines Blickes würdigen. Nur wenn der Genießer seine Triebhaftigkeit überwindet, verwandelt sich das Objekt seines Begehrens von einem natürlichen Ding, das lediglich Bedürfnisse befriedigt, zu einem bewunderungswürdigen Kunstwerk. Der Genießer hat es sorgsam arrangiert und zunächst in all seinen feinen Einzelheiten betrachtet, bevor er es sich langsam, nach Manier eines Connaisseurs , einverleibt. Wer genießen will, muss sich Zeit nehmen, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen, er muss eine Situation zu inszenieren wissen, in der das begehrte Objekt – sei es ein Teller Pasta oder ein anderer Körper – seinen ganzen Reiz entfalten kann. »Die Verwandlung in ein Artefakt, die Metamorphose in ein Kunstwerk, ist es, was … eine Intensität entstehen läßt, die sich nicht der Natur, sondern allein kunstvoller Inszenierung und Dramatisierung verdankt«, scheibt Nikolaus Lagier in seinem Buch Die Kunst des Begehrens . Homers Odysseus verhält sich in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich. Anstatt sich den Sirenen einfach hinzugeben, dramatisiert er die Begegnung mit ihnen und hält, damit einhergehend, einen ehrerbietenden Abstand ein. Insofern ist Odysseus tatsächlich der kultivierte Genießer par excellence, ja, der gefesselte Held gemahnt gar an einen Konzertgänger, der den Sopranistinnen auf der Bühne gern nah sein würde, aber, da er die Grenze nicht überschreiten darf, wie gebannt auf seinem Platz verbleibt und genau dadurch Intensität, Spannung entstehen lässt. »Der Gefesselte«, so Max Horkheimer und Theodor Adorno, »wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.«
Genuss setzt also Inszenierung, Dramatisierung und damit einhergehend einen gewissen Abstand zum begehrten Objekt voraus, was wiederum bedeutet, dass der Genießer
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