Wir Genussarbeiter
zu Triebaufschub, Selbstkontrolle und Enthaltsamkeit fähig sein muss. Doch es besteht die Gefahr, dass der Genießer die Inszenierung und Dramatisierung überkultiviert und auf diese Weise, so paradox es klingen mag, pervertiert . Der Genießer will genießen, aber ist doch nur damit beschäftigt, die perfekten Voraussetzungen dafür zu schaffen! Geradezu zwanghaft hält er sich mit bestimmten Ritualen auf, die immer gleich zu sein haben und höchsten Standards genügen müssen. Gerade im Urlaub, der schwer verdienten Auszeit, reicht nicht ausnahmsweise mal ein Eintopf oder eine Wurst mit Pommes im Stehen. Unermüdlich sucht er das perfekte Restaurant, um dann spätnachts übelgelaunt und hungrig ins Hotel zurückzukehren, von dem er sich auch mehr versprochen hatte. Ja, selbst wenn ihn die Wurst mit Pommes im Grunde sogar reizt und er, nach einem Tag am Meer, Heißhunger auf Salziges verspürt, kann er sich nicht zum Verzehr entschließen. Stattdessen umkreist er die verheißungsvolle Wurst wie ein Zwangsneurotiker das verbotene Objekt und verliert sich in Ersatzhandlungen.
Der kultivierte Genießer erhebt den kontrollierten Genuss zum Kult. Diesem Kult wird alles geopfert, die Spontaneität, die Gier, die Lust, ja, sogar der Genuss selbst: Im Vordergrund steht nicht mehr das Genießen, sondern das rigide Maßhalten. Kein Schluck Wein, der vom asketischen Kult-Genießer nicht auf seine Spätwirkungen hin bedacht würde. Und bei der Frage, ob er noch einmal nachnehme vom Hirschragout, hebt er abwehrend die Hand, als habe man ihn mit dieser Frage regelrecht bedroht. Gewiss, der Körper dankt es uns, wenn wir nicht spätabends oder gar nachts noch schwer essen und das Ganze womöglich noch mit einer Flasche Rotwein
herunterspülen. Doch, so wusste Walter Benjamin: Wer immer nur maßhält mit allem, kommt nie zu wahrer Welterfahrung – denn ein tiefes Eintauchen in das Wesen der Dinge ist allein, schreibt der Philosoph, dem Gierigen vorbehalten: »Der hat noch niemals eine Speise erfahren, nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt. So lernt man allenfalls den Genuß an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen, den Abweg von der ebenen Straße des Appetits, der in den Urwald des Fraßes führt. Im Fraße nämlich kommen die beiden zusammen: die Maßlosigkeit des Verlangens und die Gleichförmigkeit dessen, woran es sich stillt. Fressen, das meint vor allem: Eines, mit Stumpf und Stil. Kein Zweifel, daß es tiefer ins Vertilgte hineingelangt als der Genuß. So wenn man in die Mortadella hineinbeißt wie in ein Brot, in die Melone sich hineinwühlt wie in ein Kissen, Kaviar aus knisterndem Papier schleckt und über einer Kugel von Edamer Käse alles, was sonst auf Erden essbar ist, einfach vergißt.«
Was tun Babys, sobald sie greifen, sobald sie be greifen können? Sie stecken sich alles, was in ihre Reichweite kommt, in den Mund und lutschen, schmecken, schlecken, um die Welt zu erkunden. Doch je besser erzogen wir sind und je gediegener das Ambiente ist, desto mehr ist Zurückhaltung gefordert – ja, man wird im schlimmsten Fall noch nicht einmal satt. So scheint es in manchem Restaurant gar nicht darum zu gehen, seinen Hunger zu stillen, sondern sich an dem kunstvollen Arrangement winziger Essenspartikel auf einem viel zu großen Teller zu ergötzen. Das Essen dient nicht primär der Nahrungsaufnahme als vielmehr der Schaulust, ja, der Genuss des Essens degeneriert gewissermaßen zum pornographischen Akt. Wie beim Konsum eines Pornos hält der Genießer das Objekt des Begehrens so sehr auf Abstand, dass er nicht mehr es selbst, sondern nur noch sein Abbild genießt. Es handelt
sich um eine Entfremdung, ja beinahe um eine Abscheu vor dem, um das es doch eigentlich geht, nämlich um das Essen selbst. So wie der Pornokonsument den Geschlechtsakt nur im Bild, das heißt geruchlos und unberührbar hinter Glas erträgt, scheint auch der Nouvelle-Cuisine -Genießer vor der Taktilität, dem Geruch, der verführerischen Macht des Essens zurückzuschrecken, und deshalb lässt er sein Verlangen erst gar nicht so weit kommen. Ähnliches gilt auch für die mittlerweile vielfach adaptierte, längst zur Mode gewordene Molekularküche des katalanischen Starkochs Ferran Adrià. In höchst aufwendigen Verfahren verändert Adrià die Struktur des Essens und vergrößert durch die Technik des Aufschäumens dessen Oberfläche, wodurch sich der Geschmack intensiviert. Der Berliner Kunstkoch Jochen Fey sagt über dessen
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