Wir Genussarbeiter
Körpers, auf der Seite der Gesellschaft und, vor allem, auf der Seite der Vernunft. Doch handelt es sich überhaupt noch um Genuss, wenn er gesund, gesellschaftskonform und vernünftig ist? Horkheimer und Adorno schreiben: »Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluß ganz unterjocht wird. Der Genuss ist gleichsam ihre Rache. In ihm entledigen die Menschen
sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation. In den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen. Die primitiven Orgien sind der kollektive Ursprung des Genusses … Man gibt sich den verklärten Mächten des Ursprungs hin … Erst mit zunehmender Zivilisation und Aufklärung macht das erstarkte Selbst und die gesicherte Herrschaft das Fest zur bloßen Farce. Die Herrschenden führen den Genuß als rationalen ein, als Zoll an die nicht ganz gebändigte Natur, sie suchen ihn für sich selbst zu entgiften zugleich und zu erhalten in der höheren Kultur; den Beherrschten gegenüber zu dosieren, wo er nicht ganz entzogen werden kann. Der Genuß wird zum Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den primitiven Veranstaltungen untergeht. Die Entwicklung verläuft vom primitiven Fest bis zu den Ferien.«
Der Inbegriff jenes erstarkten Selbst, das den rauschhaften Genuss entzaubert und als rationalen einführt, ist für Horkheimer und Adorno Homers Odysseus. Der Genuss des Sirenengesangs bedroht den Seefahrer und seine Weiterfahrt so wenig wie eine Cola light den Cholesterinspiegel, zwei Wochen Sommerurlaub das Bruttosozialprodukt oder in Maßen genossener Biowein aus ökologisch kontrolliertem Anbau die Leber. Aber apropos Bio: Gerade am gegenwärtigen Ökowahn zeigt sich, wie leicht ein vermeintlich rationales Genießen in ein zutiefst irrationales umkippen kann. Tatsächlich erfüllt so mancher gesundheitsbewusste Bioeinkäufer in seiner Gewissenhaftigkeit, was die Auswahl der für ihn erlaubten Speisen angeht, die Kriterien einer vergleichsweise jungen Essstörung namens Orthorexia Nervosa , die erstmals Ende der neunziger Jahre beschrieben wurde, als Bioläden wie Pilze aus dem Boden schossen. »Kennzeichnend für diese Essstörung ist, dass sich die Betroffenen in krankhafter Weise ›gesund essen‹«,
so die Volkskundlerin Alexandra Deak. »Bei der Nahrungsaufnahme werden nicht nur Kalorien gezählt, sondern penibelst Inhaltsstoffe, Nährwerte, Vitamin- und Mineralgehalte überprüft. Auf diese Berechnungen werden häufig mehrere Stunden verwendet. Die Auswahl der ›erlaubten‹ Lebensmittel wird zunehmend geringer. Betroffen sind meist junge Frauen, die eine wachsende und teilweise enorme Angst vor ungesunden Lebensmitteln, z. B. Süßigkeiten, Fast Food oder Fertigprodukten, haben. Besonders häufig sind Orthorektiker in ökologischen Naturkostkreisen anzutreffen. Den Speiseplan dominieren frisches Obst und Gemüse. Die Krankheit setzt überwiegend schleichend ein, in späteren Phasen kommt es oftmals zu Missionierungsversuchen gegenüber Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen am Arbeitsplatz, was zu einer sozialen Isolation der Betroffenen beitragen kann.«
Mittlerweile hat sich die Missionierung zumindest in den mittleren und oberen Gesellschaftslagen weitgehend erübrigt. »Dinkel macht glücklich«, lauten die Werbesprüche auf Wochenmärkten in gehobenen Stadtvierteln. Mütter sitzen mit ihren naturwollepullovrigen Kindern an Holztischen, es gibt Dinkelbrötchen, Dinkelwaffeln, Dinkelkekse und natürlich auch Dinkelkuchen. Dinkel ist gesund, keine Frage. Aber schmeckt er auch? Diese Frage stellt sich die gesundheitsbewusste Genießerin nicht und beißt stattdessen entschlossen in die Dinkelerdbeerschnitte, ein Kuchen, der den Namen Sandkuchen endlich einmal verdient hätte, denn er ist so trocken wie die Sahara und lässt sich nur mit einer Tasse Yogi-Tee herunterbekommen, die praktischerweise am selben Stand verkauft wird.
Doch noch viel schlimmer ist, dass gesundheitsbewusste Genießer bisweilen vereinsamen, ohne es zu merken. Schweigend drehen sie im Park ihre Runden, stumm schwitzen sie in
der Sauna, und Feste verlassen sie natürlich immer sehr früh. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass ein rationaler Genussmensch aus der Endlosschleife asketischer Selbstkontrolle überhaupt nicht mehr herauskommt und sich auf nachgerade tödliche Weise um sich selbst dreht. Was Letzteres genau heißt, lässt sich am eindrücklichsten wiederum an Odysseus zeigen,
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