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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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markierten E-Mails beantworten oder endlich mit dem neuen Roman anfangen könnte, der seit Wochen auf dem Nachtisch liegt. (Und ist der Genuss, den man bei der Lektüre eines guten Buches empfindet, nicht wesentlich wertvoller als der eines Geschlechtsaktes? Ganz zu schweigen von dem Wert eines gründlich aufgeräumten E-Mail-Postkastens!) Bekannt auch die Hektik des Alltags, in der es ganz einfach keine Zeit und keinen Sinn gibt für Sex; oder das berühmte Abschaltproblem nach einem harten Tag im Büro und dem damit zusammenhängenden Wunsch, den Abend lieber mit Unanstrengendem zu verbringen (»Fernsehen oder Sex?« – »Ach, lieber Fernsehen …«). Gut, gut, alles bekannt. Aber war die sexuelle Lustlosigkeit zu Freuds Lebzeiten nicht wesentlich größer? Ist Freud nicht tatsächlich das Kind einer Zeit, in der die kulturelle Sexualmoral so streng war, dass schon allein der Gedanke an Sex mit gnadenlosen Gewissensbissen bestraft wurde? Tatsächlich leben wir doch heute in einer ganz anderen Gesellschaft: Vierzig Jahre nach
der sexuellen Revolution, die Freud nicht mehr miterlebt hat, gibt es keinen Kuppeleiparagraphen mehr und der Ausdruck ›vorehelicher Sex‹ zaubert Pubertierenden heute höchstens noch ein Grinsen ins Gesicht. Im Kino werden erigierte Geschlechtsteile mit einer Selbstverständlichkeit gezeigt wie in den Fünfzigern Knie. Pornodarstellerinnen treten in Talkshows auf, Edel-Sexshops befinden sich hell ausgeleuchtet in bester City-Lage, und weil seit der Erfindung des Internets Pornofilme auch für Jugendliche problemlos konsumierbar sind, ist seit geraumer Zeit gar von einer »sexuellen Verwahrlosung« der jungen Generation die Rede. Kurz und gut: Die sexuelle Liberalisierung, oder, weniger wohlwollend ausgedrückt, die gesellschaftliche Pornographisierung, ist doch wohl das schlagende Argument gegen Freuds Behauptung! Sind wir nicht heute, was den Sex angeht, so frei und, möchte man doch meinen, entsprechend auch so aktiv wie nie zuvor?
    Allein: Dass Sexuelles heute nicht mehr schamhaft verborgen, sondern in einem immer stärkeren Maße ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, heißt nicht, dass wir alle lustbetonter, erotisierter, gar hedonistischer geworden wären. Tatsächlich könnte es doch genauso gut umgekehrt sein: Gerade weil der Sex aus der Tabuzone herausgetreten und zur Ware verkommen ist, verlieren wir zunehmend das Interesse an ihm. »Das Bombardement von sexuellen Außenreizen – praktisch jede Reklame arbeitet damit – ist tatsächlich zu einer Belästigung geworden«, meint der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch. Auf hauswandgroßen Plakaten preisen halbnackte Moderatorinnen, sich in Laken räkelnd, Hotelketten und deren Betten an, geiles Bier schmeckt angeblich besser als gepflegtes Pils, und die E-Mailbox muss man mit Spamfiltern vor Viagra- und Sexwerbung schützen. Im 21. Jahrhundert ist das Sexuelle nicht mehr das Abwesende, Verdeckte, Heilige,
auf geheimnisvolle Weise dem Blick Entzogene, sondern es wird umgekehrt regelrecht aufgedrängt und damit zunehmend profan. »Je unablässiger und aufdringlicher das Sexuelle öffentlich inseriert und kommerzialisiert wurde, desto mehr verlor es an Sprengkraft, desto banaler wurde es«, stellt Sigusch in seinem Buch Neosexualitäten fest und schlussfolgert, dass die Sexualität für immer mehr Menschen entbehrlich werde: »Weil sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann sie auch unterbleiben.« Man kennt diese Dynamik aus Überangebot und Langeweile ja in der Tat bestens aus Beziehungen: Sobald der Körper des anderen mir allzu selbstverständlich wird und ich keinerlei Anstrengungen mehr unternehmen muss, um ihn zu ›bekommen‹ – ja, wenn er sich mir sogar aufnötigt , indem er ständig nackt vor mir herumspringt –, verliere ich unwiederbringlich die Lust. Und könnte es nicht durchaus sein, dass sich dieser Überdruss nun auch auf gesellschaftlicher Ebene einstellt, weil Sex schlichtweg nichts Besonderes, Verbotenes, Tabuisiertes mehr ist?
    Wirft man einen Blick in die Medien, dann scheint die Vermutung, dass der Mensch die Lust am Sex langsam verliert, zumindest nicht ganz falsch zu sein. »Willkommen im Club!«, titelte beispielsweise vor ein paar Jahren das Magazin Psychologie Heute und spielte damit auf die sexuelle Inaktivität vieler Paare an. Das Boulevardmagazin Bunte bot seinen Lesern und Leserinnen zur selben Zeit einen Artikel über »Das große Glück ohne Sex«, das angeblich der

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