Wir Genussarbeiter
Anspruch, der immer noch mehr verlangt: Wenn du eine Eins auf dem Zeugnis haben, wenn du die Goldmedaille gewinnen, wenn du den Chefposten haben willst, musst du noch besser sein! Besser als alle anderen! Aber was heißt ›besser‹? Was hat dieses Besser mit einer höchst individuellen Leidenschaft für die Arbeit zu tun, die naturgemäß Höhen und Tiefen kennt, die Pausen braucht und deren individueller Wert sich kaum in Noten oder Medaillen ausdrücken lässt? Nicht die Frage, was man selbst zu leisten überhaupt in der Lage ist, steht im Vordergrund, sondern wichtig ist einzig und allein die imaginierte oder auch reale Forderung des großen Anderen: Was will er von mir? Was muss ich tun, damit er mich anerkennt? Diese Art entfremdeten Arbeitens ist im Grunde vergleichbar mit der Sexarbeit im Pornofilm: Der Sex vollzieht sich nicht um seiner selbst willen, sondern für die Kamera. Auf das schwarze Loch – den imaginierten Anspruch – ist der Akt ausgerichtet, ob er Vergnügen macht, ist sekundär.
Auf diese Weise wird die Arbeit zunehmend sinnentleert: Was man auf einen ersten Blick womöglich für eine ekstatische
Lust an der Arbeit hält, ist in Wahrheit Dienstbeflissenheit, ein unermüdliches Erfüllen von Anforderungen. Man muss arbeiten, weil man nur so die Gunst des großen Anderen, die Gunst der Gesellschaft mit ihren Regeln, Normen und Anforderungen, gewinnen kann; und ehe man sich versieht, ist die Arbeit zu einem reinen Selbstzweck, zu einer leeren Pflicht geworden.
»Denn für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die ernste Arbeit, die den ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen Sinn hat, ob sie schadet oder nützt, ob sie Vergnügen macht (…) – : das ist alles ganz gleich. Es muß eine Arbeit sein. Und man muß morgens hingehen können. Sonst hat das ganze Leben keinen Sinn.
Und stockt einmal der ganze Betrieb, streiken die Eisenbahner oder ist gar Feiertag – dann sitzen sie herum und wissen nicht recht, was sie mit sich anfangen sollen. Drin ist nichts in ihnen, und draußen ist auch nichts los: also, was soll es? Es soll wohl gar nichts …«
So schrieb der Dichter Kurt Tucholsky bereits in den zwanziger Jahren in seinem Prosastück »Morgens um acht«. Die Arbeit ist es, worüber sich der moderne Mensch definiert. Wäre diese Arbeit aber eine erfüllende, nachhaltig befriedigende, gestalterische, und könnte man sicher sein, dass man sie auch noch hat, wenn man zwischendurch einmal nicht arbeitet, wüsste man sehr wohl auch ohne sie etwas anzufangen. Entspannt würde man sich zurücklehnen, müßiggehen, und inmitten der Langeweile würde irgendwann wieder die süße Sehnsucht nach Produktivität aufkeimen.
Zwar hat sich die Arbeitswelt seit Tucholskys Zeiten insofern verändert, als dass heute in vielen Tätigkeitsfeldern Schöpferkraft gefragt ist: die sogenannte Kreativwirtschaft
ist längst zu einem ertragreichen und nicht mehr wegzudenkenden Wirtschaftssektor avanciert. Muße und Ruhe aber kann sich auch der Kreativwirtschaftler kaum leisten, er muss produktiv sein, und zwar am laufenden Band. Der freischaffende Designer, der eine Deadline verschiebt, weil er uninspiriert ist, muss befürchten, seinen Auftraggeber zu verlieren; und der Journalistin, die ein Jahr mit ihrem Baby zu Hause verbringen möchte, unterstellt man Desinteresse an ihrer Arbeit. Texte und Entwürfe hätten am besten schon gestern fertig sein sollen, Zeit, etwas Fertiggestelltes zu genießen, bleibt nie, weil sofort die nächste Aufgabe drängt, und wenn der Kreativwirtschaftler auch nur wenige Stunden am Tag Internet und Handy ausschaltet, um in Ruhe arbeiten zu können, muss er damit rechnen, dass ein Auftrag an jemand anderen geht.
Druck und Stress gab es bereits vor der Erfindung des Internets; seitdem Smartphones für Arbeitnehmer immer mehr zur Pflicht werden und ohne Internetanschluss niemand mehr ernsthaft teilhaben kann an der Arbeitswelt, ist an ungestörtes Vertiefen überhaupt nicht mehr zu denken. Pling! Post. Schnell gucken. Klick. Und schnell antworten. Klick. Wo war ich gerade? Ach ja. Weiter im Text. Hmm. Kniffelige Stelle. Herrje, die Zeit drängt, gleich ist Konferenz und ich habe immer noch nichts Präsentables … Vielleicht schau ich kurz bei Spiegel online , und wenn ich schon mal dabei bin, auch noch beim Guardian rein, das bringt mich immer auf Ideen. Klick. Pling! Schon wieder eine Mail. Klick. Reply. Klick. Lohnt sich jetzt kaum noch, richtig in den Text zu gehen. Hab
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