Wir Genussarbeiter
eh einen Mailüberhang von gestern … »Im Nachhinein kamen mir solche Tage vor, als hätte ich in der staubtrockenen Luft eines Kopierladens fortwährend nur leere Blätter in die Luft geworfen, bleiche, zerfaserte Zeit.« So schildert der Journalist
Alex Rühle seinen internetbedingten Alltagsstress in dem Buch Ohne Netz , das von seinem halbjährigen Offline -Selbstversuch handelt. »Als würde da einer hinter meinem Rücken, während ich in den Bildschirm starre, mit dem Tintentod über den Tag drübergehen: Kaum vergangen, ist alles verblasst.« Hier schnell einen Begriff googeln, da flugs noch einen Artikel lesen, zwischendurch 30, 40, 50 Mails checken: Nachgerade zwanghaft verausgaben wir uns heute im Netz, sammeln, kommunizieren, saugen auf, bis sich das Denken vollends verflüchtigt hat in den unendlichen Weiten des Cyberspace. Mit Verwirklichung durch Arbeit hat ein solches Tätigsein nichts zu tun.
Wenn ein Mensch trotz größter Anstrengung nur ›leere Blätter in die Luft wirft‹, wie Rühle so treffend formuliert, ist die Gefahr, arbeitssüchtig zu werden, groß. Weil die Arbeit nichts hervorbringt, sondern sich in frustrierenden Sisyphostätigkeiten erschöpft, ist man ständig unzufrieden und hat ununterbrochen das Gefühl, nicht genug gearbeitet zu haben. Was daraus resultiert, ist ein tiefes Enttäuschtsein und Unsicherheitsempfinden, weil auch das ehrgeizigste Engagement nie die ersehnte Anerkennung bringt: Es gibt immer noch mehr zu tun, noch mehr zu erledigen – und wenn ich es nicht tue, tut es womöglich irgendwann jemand anderes, der eine größere Bereitschaft zur Verausgabung hat.
Es ist tatsächlich wie in einer unerfüllten Liebe: Weil in unserer Kultur weniger Verwirklichung durch Arbeit als vielmehr abstrakte Leistung zählt, fühlt der Mensch sich austauschbar und ersetzbar – und strengt sich umso mehr an, um es nicht zu sein. »Ich bin nachts aufgewacht, meist schweißgebadet, und mir fiel ein, wo ich noch nachhaken, anrufen oder etwas abliefern musste«, schreibt Meckel rückblickend über die Zeit vor ihrem Burnout. »Dann stand ich auf
und schrieb es auf einen Zettel. Ich hätte sonst nicht wieder einschlafen können, weil die unerledigte Aufgabe wie eine Zentrifuge in meinem Kopf rotierte … Ich bin oft gegen zwei oder drei Uhr wach geworden und konnte einfach nicht wieder einschlafen … Wenn es früher Morgen war, irgendwann nach vier, habe ich mich an den Computer gesetzt und Dinge abgearbeitet, die liegengeblieben und noch zu erledigen waren, Emails geschrieben.«
Nicht primär über seine Neigungen und Bedürfnisse, sondern über seine Leistung definiert sich der Mensch in der Hochleistungsgesellschaft, und zwar von Kindesbeinen an. Schon bei Babys geht es heute um Leistungsoptimierung und gezielte Talentförderung. Alle paar Monate werden Entwicklungsstände überprüft, Motorik und Kognition geschult, und sobald sich auch nur das kleinste Anzeichen eines Talents zeigt, wittern viele Mütter und Väter sofort etwas ganz Großes. In Extremfällen geht das Kind mit vier Jahren in den Tennisverein, trainiert, sobald es sechs ist, dreimal die Woche, und wenn es sonntags Turniere spielt, schaut es zwischen den Ballwechseln immer wieder angst- und hoffnungsvoll zu Mutter und Vater, die mit den größten Erwartungen auf der Tribüne sitzen. Wirklich geliebt fühlt sich das Kind nur, wenn es gewinnt; verliert es, grämt es sich. Auch in vergleichsweise normalen, weniger ambitionierten Familien ist das Leistungsdenken fest verankert. Unverplante Zeit, Gelegenheit zur Muße gibt es fast nie, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Eltern ebenfalls dem Leistungsimperativ gehorchen. Der Tag ist eng getaktet, alles muss immer schnell gehen (»Wir müssen zur Arbeit!«), schon morgens müssen die Schuhe schnell gebunden werden, dann muss man schnell zur Schule, anschließend schnell zum Training oder zum Klavierunterricht, und abends schnell ins Bett, weil morgen ja wieder ein harter Tag ist …
Eine Verwirklichung durch Arbeit aber braucht Muße. Um sich zu entfalten, muss der Mensch im Spiel versinken dürfen, zweckfrei und ohne Angst. »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, schreibt Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen . Sorglos spielen kann ein Mensch nur, wenn er sich gehalten fühlt. Gehalten durch
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