Wir Genussarbeiter
schildert, zu »blauen Hoden«, aber doch immerhin zu dröhnendem Kopfweh, verspannten Nackenmuskeln, Rückenschmerzen
oder gar, wenn der Druck allzu groß wird, zu einem nervtötenden Piepen im Ohr. Die letzte Stufe ist die Depression, ein Gefangensein in Teufelsklauen. Der Druck muss sich entladen, aber dieses Müssen macht natürlich alles nur noch schlimmer! Es ist tatsächlich wie beim Sex: Wer nur noch ans Ziel denkt, verliert die Sache, um die es doch eigentlich geht, aus den Augen.
Aber worum genau geht es denn eigentlich beim Denken? Doch wohl, so möchte man meinen, um die Wahrheit! Das Finden der Wahrheit ist das Ziel des Denkens: Erst wenn sie gefunden ist, löst sich alle Anspannung in Wohlgefallen auf. Und wer wollte es da dem philosophierenden Menschen verdenken, dass er auf diesen Punkt, auf diesen Höhepunkt seines Wirkens und Werdens, hinstrebt? Allein: Die Wahrheit ist nichts, was gefunden werden könnte wie ein Goldstück oder sich offenbaren würde wie ein nackter Leib. Vielmehr besteht ihr Wesen darin, dass sie sich entzieht – und gerade dieser Entzug ist es, der sie so begehrenswert erscheinen lässt. »Das zu-Denkende wendet sich vom Menschen ab. Es entzieht sich ihm«, so formulierte Heidegger in seiner Vorlesung Was heißt Denken? , die er Anfang der fünfziger Jahre an der Universität Freiburg hielt. »Was sich uns entzieht, zieht uns dabei gerade mit, ob wir es sogleich und überhaupt merken oder nicht.« Indem und gerade weil die Wahrheit sich vom Menschen abwendet, weckt sie sein Begehren. Sie lockt ihn, ihr zu folgen, verführt ihn dazu, ihr nachzuspüren – und immer, wenn er glaubt, sie zu erkennen, entzieht sie sich aufs Neue.
Philosophisches Nach-Denken besteht somit weniger in der Wahrheits findung als vielmehr in der Wahrheits suche , oder man könnte auch sagen: Es ist nicht pornographisch, sondern erotisch. Die Pornographie kennt kein Geheimnis, das es zu lüften gälte, alles ist sichtbar, und deshalb bleibt ihr nichts
anderes übrig, als krampfhaft und zwanghaft einen Höhepunkt an den anderen zu reihen. Die erotische Lust hingegen entzündet sich nicht an Sichtbarem, sondern an Abwesendem. Sie kennt keine nackte Wahrheit, sondern nur den Schleier des Scheins, der das hinter ihm Verborgene lediglich andeutet und so die Phantasie anregt. Mal strafft sich der Stoff hier, mal da, legt sich in Falten, deren Wurf der Blick folgt wie einer Welle am Strand, verträumt fragend, woher sie wohl kommen mag, aus welcher Tiefe … Zwar gibt es Höhepunkte auch in der Erotik, aber nie so kalkulatorisch wie in der Pornographie. Sie geschehen eher beiläufig, sind ein Geschenk des Himmels – so wie auch im Denken. Tatsächlich kommen plötzliche Eingebungen ja gerade dann, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnet, nämlich während der Abschweifung und nicht im angestrengten Aufs-Ziel-Zusteuern.
Die Inspiration ist im wahrsten Sinne eine Gabe. Es ist, als würde der Denker vom ›zu-Denkenden‹ selbst beschenkt, weil er es nicht als Sache begreift, die es in einem technischen Sinn zu bearbeiten gilt, sondern sich ihm mit Liebe und Hingabe widmet. »Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat«, schreibt Heidegger. »Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen. Denn wir vermögen nur das, was wir mögen.« Und bedeutet Mögen beziehungsweise Lieben nicht auch: loslassen können? Wer liebt, versucht nicht mit Macht das geliebte Gegenüber für sich zu gewinnen, er weiß, dass der Andere ihm nie gehören wird wie ein Haus oder ein Auto, und nur vor dem Hintergrund dieser zugestandenen Freiheit kann der oder die Geliebte sich dem oder der Liebenden schenken.
Und verhält es sich mit einem Gedanken nicht ganz ähnlich? Ich kann über meine Gedanken nicht beliebig verfügen, sie haben ein Eigenleben, und nur wenn ich ihnen dieses
eigene Leben zugestehe, vermag ich auszuhalten, wenn sie sich zeitweilig zurückziehen. Anstatt mich an sie zu klammern und sie so erst recht zu verscheuchen, lasse sich sie los und halte mich offen für ihre Rückkehr.
Zu lieben setzt zudem voraus, dass ich mein Gegenüber tatsächlich in seinem Sosein wahrnehme, anstatt es zu sehen, wie ich es sehen will . Mein Geliebter ist nicht meine Projektion, sondern ein Mensch, den es mit Aufmerksamkeit zu bedenken gilt und zu dem ich mich auf diese Weise in eine Beziehung setze. So auch im Denken. Erkenntnis entspringt nicht der reinen Vorstellung des Gegenstandes, sondern
Weitere Kostenlose Bücher