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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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sich von morgens bis abends Weib, Wein und Gesang hingegeben hätte? Erst in der Entbehrung, so scheint es, zeigt sich der Reiz des rein Geistigen, der Reiz des Metaphysischen. Und tatsächlich wird ja Denken, Fabulieren, Träumen, Glauben, sogar das Sprechen selbst erst notwendig, wenn real etwas fehlt. Wenn etwas, das ich haben will, abwesend ist. Wenn ein Wunsch übrig bleibt. Meine kleine Tochter ruft nur dann nach mir, wenn ich nicht in ihrer Nähe bin. Wenn sie mich vermisst. Philosophen erkennen nur dann Zusammenhänge und Schriftsteller erfinden nur dann Geschichten, wenn sie sich real aus Bezügen lösen. Und wie sollte vor meinem geistigen Auge ein kühles Bier erscheinen, wenn ich überhaupt nicht durstig bin?
    Keine Sehnsucht ohne Entbehrung also. Wann sehne ich mich denn am stärksten nach einem anderen Körper? Wenn
ich gerade nach vollbrachtem Liebesakt aus dem Bett steige? Oder nach monatelangem Darben? Und ist nicht insofern die Studierzelle oder auch jede Bibliothek letzten Endes sogar viel obszöner als ein Puff?
    Wer kennt sie nicht, die aufflammende Lust inmitten von Bibliotheksregalen? Tag für Tag sitzt man am immergleichen Schreibtisch, gräbt sich hinein in das verstaubte Wissen der Jahrhunderte … Da braucht nur ein Duft heranzuwehen, der Geruch eines menschlichen Wesens, und schon heben sich die Augen unweigerlich, sehen ein Stück vorbeieilendes Bein, verfolgen den Körper, bis er wieder in irgendeiner Reihe verschwindet, Ha 13,3 bis Hc 17,5 zum Beispiel, die Reihe mit den philosophischen Wörterbüchern, von denen glücklicherweise immer mal wieder eines fehlt, sodass sich hier und da noch ein Körperteil zeigen kann, ein Arm, eine Schulter, ein bisschen Hüfte … Nur wer fastet, träumt ständig vom Essen. Und nur wer sich hin und wieder in Situationen bringt, in denen jede Form körperlicher Hingabe vollkommen unmöglich ist, kann sexuellen Appetit sogar auf ein Stück Bein entwickeln. Die Askese, die doch eigentlich jede Lust verhindern soll, bringt sie also anscheinend überhaupt erst hervor.
    Das wirft nun allerdings noch einmal ein gänzlich anderes Licht auf den heiligen Antonius. Wenn es nämlich Lust ohne Askese gar nicht gibt, dann sind die Dämonen, die ihn piesacken, in Wahrheit keine Ablenkung, sondern die Folge seiner asketischen Hinwendung zu Gott. »Die asketische Praxis, die auf eine Stillstellung aller geistigen Unruhe abzuzielen scheint, provoziert das Gegenteil davon«, meint der Literaturwissenschaftler Niklaus Largier. »Die Aufkündigung sozialer, familiärer, generell natürlicher Bande im Namen einer Intensivierung des Bezuges zu Gott generiert eine neue Artikulation der Welt in Form dämonischer Figuren.« Mit anderen Worten: Der
Eremit Antonius ist nicht von Teufeln heimgesucht worden. Vielmehr hat er, durstig, hungrig und einsam in der Wüste lebend, ständig alle möglichen Verlockungen halluziniert. Könnte es nicht tatsächlich sein, dass Antonius Wein, Weib und Gesang weniger als Versuchung fürchtete, als dass er sich danach sehnte? Dass er sich in seiner Einsamkeit nichts mehr wünschte als die körperliche Nähe zu einer Frau und also die süßen Bisse seiner Teufelchen durchaus auch genoss?
    Die Phantasien des Antonius entspringen einer körperlichen Sehnsucht. Und auch Heidegger kommt ins Philosophieren, weil er einen Mangel verspürt. Anders gesagt: Er philosophiert, weil er begehrt. Indem er sein Werk an die Stelle der Geliebten setzt, kann er beim Schreiben eine Verruchtheit und Grandiosität empfinden wie sonst nur im sexuellen Akt. Doch das bedeutet keineswegs, dass Heidegger und Antonius einfach nur Wonne empfunden hätten beim Denken und Phantasieren! Wer begehrt, will schließlich etwas, und dieses Wollen ist lustvoll und quälend zugleich und lässt sich nur aushalten, wenn die Hoffnung auf Erlösung nicht stirbt. Deshalb blickt Antonius so angestrengt in den Himmel, mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen, die vielleicht das charakteristischste Merkmal eines denkenden Menschen ist, aber durchaus auch sexuelle Angespanntheit anzeigen kann: Bei aller Hingabe geht es ja immerhin darum, irgendwann ans Ziel zu kommen, weil, wie der amerikanische Autor Philipp Roth in seinem Roman Empörung so treffend schreibt, »Petting ohne Höhepunkt der Evolution ein Greuel ist«. Dasselbe gilt fürs Denken. Zwar führt eine andauernde gedankliche Anspannung nicht zu stechenden Schmerzen in der Lendengegend oder, wie Roth aus männlicher Perspektive

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