Wir Genussarbeiter
einer zu hohen Dosis injiziert wird, kommt es zu Atem- und Schluckbeschwerden sowie zu einer Erschlaffung der Gesichtszüge. Aber wer wollte behaupten, dass nicht auch die Menschen früherer Epochen mitunter auf brutalste Weise in den Körper
eingegriffen hätten? Bereits die Römerinnen, so berichtet Birgit Schmid in ihrem Artikel Schnitt für Schnitt , träufelten sich Tollkirschsaft in die Augen, um große und glänzende Pupillen zu haben. Und im 16. Jahrhundert schrieb der französische Philosoph Michel de Montaigne: »Was vermögen die Frauen nicht alles! Welches Mittel könnte ihnen je Furcht einflößen, wenn sie sich davon auch nur die geringste Aufbesserung ihrer Schönheit erhoffen: Fürs neue Antlitz schaben sie sich die Haut ab und reißen die Haare eifrig bis zur Wurzel aus, die längst schon weißen. Ich habe einige gesehen, die Sand und Asche verschlungen und alle Anstrengungen unternommen haben, sich den Magen zu verderben, um eine blasse Gesichtsfarbe zu bekommen. Und welche Höllenqualen nehmen sie nicht auf sich, um sich nach der spanischen Mode eine Wespentaille zu geben, geschnürt und eingezwängt, mit großen, tief ins Fleisch schneidenden Keilen an den Seiten, so daß manche schon daran gestorben sind!«
Und was ist mit den Lotusfüßen in China, die dort jahrhundertelang als weibliches Schönheitsideal galten? Man brach den Frauen das Fußgewölbe und band dann die Füße fest ein, um ihr Wachstum zu verhindern. Gefragt wurden die Frauen natürlich nicht, genauso wenig wie die Padaung-Frauen in Burma, denen man noch heute mit Messingspiralen den Hals so extrem verlängert, dass sie ihn selbstständig gar nicht mehr halten könnten. Der lange Hals ist beim Volk der Padaung nicht nur ein weibliches Schönheitsideal, sondern zeigt traditionell auch die Stellung der Trägerin im Dorf an. Aber wird der Eingriff dadurch respektabler? Ist ein Eingriff im Dienste einer Tradition etwa moralisch gerechtfertigter als ein Eingriff in den Körper ohne Tradition? Ja, sind die Eingriffe, die wir in westlichen Kulturen um der Schönheit willen vornehmen, im Vergleich zu jenen in traditionellen
Kulturen nicht nachgerade human? Auf der Südseeinsel Samoa zum Beispiel werden jungen Männern noch heute im Zuge eines Übergangsrituals vom Knie bis zur Hüfte dicht an dicht Zeichen in die Haut geritzt, und das unter den größten Qualen und mit immensem Blutverlust. Auf Neuguinea, wo man Krokodile verehrt, weil sie dem dortigen Glauben zufolge der Ursprung des Lebens sind, wird sechzehn Jahre alten Jungen mit einem Rasiermesser das Schuppenpanzermuster der heiligen Tiere in die Haut geritzt; bis zu 2000 Schnitte sind dazu nötig. Und bei den brasilianischen Kayapó-Indianern sticht man einem neugeborenen Jungen schon nach wenigen Tagen ein Loch in die Unterlippe. Mit den Jahren wird das Loch vergrößert, und wenn der Junge das Heiratsalter erreicht hat, setzt man ihm eine sogenannte Lippenscheibe ein, die so groß ist wie eine Untertasse und die Redekunst ihres Trägers symbolisieren soll. Was ist dagegen eine kleine Lippenkorrektur beim Schönheitschirurgen? Ist es im Vergleich zu den Ritualen in traditionellen Gemeinschaften nicht geradezu lächerlich, dass wir hierzulande von einem Körper kult sprechen? Und zwar nicht nur, weil die Eingriffe vergleichsweise harmlos sind, sondern auch, weil wir uns immerhin entscheiden können, ob wir sie vornehmen lassen wollen oder auch nicht?
In der Tat: Niemand zwingt uns, dass wir uns um der Schönheit willen unters Messer legen. Ja, wir sind heute so frei wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Nicht nur sind wir frei, uns für oder gegen einen Eingriff zu entscheiden, es ist uns auch quer durch alle Gesellschaftsschichten möglich, uns den Körper zu geben, den wir haben wollen. Während sich früher nur die oberen Schichten ins Mieder zwängten, haben wir es heute mit einer weitgehenden Demokratisierung der Schönheit zu tun: Flatrate-Fitness, Shoppen, Wellness, Sonnenstudio,
Schönheitschirurgie – noch nie gab es so viele und so effektive Möglichkeiten, den eigenen Körper zu trimmen, zu formen, zu schmücken, zu pflegen.
Doch genau diese Freiheit ist äußerst zweischneidig. Gerade weil ich so frei bin, ›alles aus mir zu machen‹, bin ich ständig in Gefahr, im Selbsthass unterzugehen. »Der mitunter geradezu monströs anmutende Umbau des menschlichen Körpers durch Schönheitschirurgie«, so die Philosophen Johann S. Ach und Arnd Pollmann, »weckt
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