Wir haben keine Angst
Kurse belegt Bastian, desto weniger liest er für die Hausarbeiten, die er eigentlich schaffen muss, desto kürzer schafft er es, sich in der Bib auf das zu konzentrieren, was er eigentlich machen müsste. Desto lieber möchte er Portugiesisch lernen, desto mehr Spaß hat er in den Seminaren, die er rein interessehalber belegt. Er liest in alle Bücher auf der Lektüreliste rein, exzerpiert Dutzende von Seiten aus den Aufsätzen, die ihm gefallen, und hält freiwillig das erste Referat. Er liest Diplomarbeiten von Freunden Korrektur, ganz genau diskutiert er Inhalt und Aufbau ihrer Arbeit mit ihnen. Weil es ihm Spaß macht. Und es ihm immer wieder neue Ideen für seine eigenen Denkbaustellen gibt. »Ich glaub, ich hab Bock, mir noch mal die gesamte kritische Theorie reinzuziehen«, sagt er. Denn deshalb studiert er schließlich, um seinen geistigen Interessen frei nachzugehen, um sich zu bilden, sich weiterzuentwickeln.
Bastian kann jede Nacht trinken, so lang er will. Er ist nie der Spaßverderber, der jammert, am nächsten Morgen früh rauszumüssen. Wenn er keinen Bock auf den Campus hat, verbringt er die Nachmittage in den Cafés bei ihm um die Ecke. Dort liest er Zeitung, raucht, lernt die Leute am Nebentisch kennen, überredet die süße Kellnerin zu einem frühen Bier an der Bar.
Wenn Bastian will, ist jeder Tag wie Urlaub. »Alter, was geht«, schreibt er seinem Bruder, der jeden Tag im Büro absitzt, »Gechillte Grüße aus der Sonne«. »Arschloch«, schreibt sein Bruder aus der Mitarbeiterschulung zurück. Die Augen des Smileys in der Nachricht zwinkern.
*
Anna hat einen Lifewalk vor sich. Heidi will sehen, ob sie in der letzten Woche an ihrem ängstlichen Gesichtsausdruck gearbeitet hat.
Anna tut eigentlich ihr Leben lang nichts anderes, als an sich zu arbeiten. Daran, dass Fehler bei ihr nicht erlaubt sind, hat sich seit der Schule nichts geändert, sondern nur verschlimmert. Denn Fehler sind Schwächen, Minuspunkte im Wettbewerb.
Anna hat für sich den Genie-Kult verinnerlicht. Sie sieht um sich herum nur makellose, fertige Produkte, tolle Texte, geniale Entwürfe, durchdachte Skizzen, die so aussehen, als wären sie perfekt vom Himmel gefallen. Und so will auch Anna aussehen. Alles, was sie produziert, soll perfekt sein. Inklusive des Understatements, nicht perfekt zu sein. Anna hat gelernt, zwei Nächte an etwas zu arbeiten, ohne Pause, und am Ende zu sagen, es wäre alles nicht so schlimm gewesen. Es habe gar nicht so lange gedauert und sowieso total Spaß gemacht. Hat es ja auch.
Anna managt sich selbst perfekt. Eine bessere persönliche PR -Chefin könnte es nicht geben. Intern treibt sie sich weiter, wenn sie nicht mehr kann, sie redet sich gut zu, wenn sie müde ist, motiviert sich bis zum letzten Meter. Extern schreibt sie perfekte Mails an alle Chefs und Oberbonzen, die bis ins letzte Wort die genau balancierte Dosis Ernsthaftigkeit, Kompetenz und spielerischer Ironie, die subtil die Grenze zum Dreisten streifen, besitzen. Anna weiß, wann sie in der Gruppe den Mund aufmachen muss und wann es Zeit ist, einfach zu schweigen und gute Arbeit abzuliefern. Sie weiß, wann man Einladungen zum Mittagessen annehmen darf, wann man es muss und wann man lieber alleine vorm Computer ein Brötchen isst und so tut, als sei man gerade total busy. Mit Anna waren alle Kollegen abends schon mal was trinken. Alle sagten am Ende: »Das müssen wir unbedingt mal wiederholen.« Und alle meinten es ernst.
Bei Anna wirkt jede Kommunikation federleicht. Doch die ganze Leichtigkeit hat auch ihren Preis. Denn Anna ist Teil der Softskill-Elite dieses Landes. Und diese Elite gestattet sich gar nichts. Sie denkt immer darüber nach, wie sie wirkt. Und hat deshalb langsam das Gefühl dafür verloren, wann sie gerade sie selbst ist oder wann sie, funktional, eigentlich gerade nur Werbung für sich selber macht. Wann sie Dinge nur tut oder Leute nur trifft, weil es sie weiterbringen könnte oder dem perfekten Bild, das sie von sich selber hat, entspricht.
Anna findet das selber schlimm. Vor allem, weil sie über die Jahre gar nicht gemerkt hat, wie sich alle Grenzen aufgelöst haben. Weil es jetzt kein Zurück mehr gibt, kein Runterkommen mehr von dem Wunsch, jedem immer gefallen zu wollen. Vor allem ihr selber.
Dieses ewige Gefallenwollen ist furchtbar anstrengend. Aber so ist das eben, denkt Anna, wenn man einmal in das Hamsterrad eingestiegen ist. Dann rennt man eben. Entschleunigung ausgeschlossen. Verlangsamung
Weitere Kostenlose Bücher