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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauer Nina
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Der Museumsführer für den Sommer, voller neongrüner Post-Its. Anna hat es zu keiner Veranstaltung geschafft. Die Laufschuhe, extra an ihren Fuß angepasst, die sie nicht benutzt. Der ungelesene
Spiegel
. Die ungelesene
ZEIT
. Die ungelesene
brand eins
. Die halb gelesene
NEON
. Die gelesene
Gala
. Der CD -Haufen, den sie brennen muss. Die Rechnungen. Der Rest ungebügelter Hemden. Die entwickelten Fotos, mit denen sie eine Collage basteln müsste zur Hochzeit ihrer Cousine. Der Fragebogen für Herrn G. Die To-Do-Liste.
    Anna schließt die Augen. Sie zählt bis zehn. Bei zehn wird sie aufstehen.
    *
    Bastian steht vor dem Spiegel im Bad. »Was sind Ihrer Meinung nach Ihre Stärken? Was Ihre Schwächen?« steht im Psychofragebogen von Herrn G., den der für irgendeinen Antrag braucht. Bastian betrachtet sein Spiegelbild. Er schaut sich fasziniert in seine eigenen Augen. »Wer bist du, Sebastian Klasfeld?«, fragt er mit übertrieben tiefer Stimme. Die Iris seiner Augen zuckt. Bastian tritt einen Schritt zurück.
    Seine Jogginghose schlabbert an ihm herunter. Obwohl er keinen Sport macht, hat Bastian breite Schultern. Er sieht gut aus. Das alte, rote Bandshirt von Panteón Rococó, das er aus Mexiko vom Ska-Festival mitgebracht hat, passt zu seinen dunklen Wuschelhaaren, seine Grübchen sieht man selbst jetzt, wenn er gerade nicht lächelt. Er hat sich seit drei Tagen nicht mehr rasiert, aber auch das sieht gut aus. Ein bisschen männlich, ein bisschen verwegen. Genau so wie die paar grauen Haare an seinen Schläfen. Bastian dreht sich nach rechts, nach links. Er braucht gar kein Fructis mehr, so abstehend sind die Haare im Moment von selber.
    Bastian war ewig nicht mehr beim Frisör. Er fährt sich mit der Hand durch den unrasierten Nacken. Bald wird Bille wieder sagen, was sie immer sagt: »Du verlotterst, Herzchen.« Das ist Bastians Zeichen, zum Frisör um die Ecke zu gehen, zu dem man ohne Termin kommen kann und der einen für acht Euro wieder zivilisiert aussehen lässt. Bille sagt ihm auch, wenn er wirklich mal wieder putzen muss. Vorher tut er nichts. Er sieht den Dreck einfach nicht. Er stört ihn nicht.
    Bastian nimmt eine Rolle Klopapier mit in die Küche. Er hat kein einziges Küchentuch. Und diesen Wisch-und-weg-Kram hält er für überbewertet.
    *
    Anna steht in der Küche. Ihr Kühlschrank ist immer voll. Nur leider wird immer alles schlecht, bevor sie zum Kochen kommt. Sie seufzt. Die Stimmung ist irgendwie gekippt. Vor dem Kühlschrank kniend, sortiert sie aus, schmeißt vergammeltes Essen weg. Sie bringt die Mülltüte sofort runter. Unordnung hält Anna nicht aus. Keine Sekunde lang.
    Auf dem Küchentisch liegt der Fragebogen für Herrn G. Bis zur nächsten Sitzung braucht er ihn ausgefüllt zurück. »Welche Rolle spielt Ihre berufliche Entwicklung in Ihrem Leben?«, steht auf Seite drei.
    Anna wünschte, heute wäre ein Wochentag. Dann könnte sie zum Frisör gehen. Sie tritt vor den Ganzkörperspiegel im Wohnzimmer. Sie tritt ganz nah an ihr Spiegelbild, legt die Hände links und rechts am Goldrahmen ab.
    »Hallo, Anna«, flüstert sie.
    Ihre Augen sehen aus wie schwarze Löcher. Schon als Kind fand Anna es lustig, sich selber anzustarren, bis sich alles total merkwürdig anfühlt. Bis man nicht mehr weiß, wer wen anschaut. Heute ist ihr das unheimlich.
    Anna dreht sich nach links und rechts. Sie sieht blendend aus. Das sagen ihr zumindest ständig alle. Und eigentlich weiß sie es auch. Aber heute fühlt sich alles falsch an. Ihre Haut ist schlecht, ihre Augenringe zu tief, ihr Blick zu leer. Der Nagellack bröckelt ab und ihre Haare am Pony zippeln schrecklich. Dieser eine zu lange halbe Millimeter treibt sie in den Wahnsinn. Alles hängt ihr ins Gesicht. Es kitzelt. Und es sieht einfach scheiße aus. An einem Wochentag könnte sie jetzt zu Mark rennen. Mark, ihr Frisör, der die Spülung immer extra lange einmassiert, sie mit seinen wunderbar schwulen Komplimenten einsäuselt und sie aus ihrem Zippelmartyrium innerhalb von fünf Minuten befreien könnte.
    Lily aus der Agentur hat Anna ein Peeling empfohlen. Vielleicht hilft das jetzt. Denn irgendwas muss Anna sofort unternehmen, sonst fühlt sie sich einfach zu unwohl. Sie drückt eine pastellfarbene Masse aus der Peeling-Probe. Gurke, Avocado, Aloe Vera. Anna betrachtet ihr gleichmäßig eingeschmiertes weißes Gesicht im Spiegel. Sie muss an den traurigen Clown vom Zirkus Roncalli denken, der aus der Kugel steigt und melancholisch

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