Wir haben keine Angst
Grenzen, so ist das eben im Wasser, sind fließend.
*
Anna klickt auf den Link, den Meike, eine von Maries langjährigen Freundinnen aus dem Studium unter ihre vor fünf Minuten gepostete öffentliche Einladung gestellt hat. »
Schwiegertochter gesucht
. Noch drei Tage bis zur neuen Staffel! Wer ist dabei? Chips und Sofa vorhanden. Zeit: Sonntag, 19:05 Uhr, Ort: Bei mir!« Auf YouTube beginnt eine Szene aus der letzten Staffel der Sendung, die Meike schon letztes Jahr einmal an Marie und Anna weitergeleitet hatte. Eine übergewichtige Frau, Ende vierzig, mit unheimlicher Oma-Brille, Doppelkinn und unvorteilhaftem Kurzhaarschnitt wird, untermalt von billiger Technomusik, in Endlosschleife immer wieder dabei gezeigt, wie sie in einer Tür steckenbleibt.
»Dass die so was auch immer bei Facebook ausflaggen muss!«, sprudelt Maries Stimme durchs Telefon, »Und dann auch noch bei
so
einer Show! Ich meine, man postet doch nicht was von einer Datingshow, wenn man selber schon dreißig und ewig Single ist?! Also, ich will ja auch gar nix sagen, Meike ist ja auch ’ne gute Freundin von mir und sie ist ja auch echt ’ne ganz Liebe und ich hab sie ja auch echt gerne – weißt du ja alles –, und natürlich ist sie auch noch lange kein Fall für so ’ne Show. Aber irgendwie, … ich weiß nicht … ich finde, da sollte sie echt lieber einfach gar nichts schreiben.«
»Oder eben nur ’ne Rundmail«, wirft Anna in Maries aufgebrachten Monolog ein. Sie ist zurück in die Küche gegangen und schneidet Gurken.
»Genau, oder eben ’ne Rundmail! Halt einfach nur ’ne Nachricht an die, die dann auch wirklich kommen sollen und die das dann auch richtig verstehen. Für die das dann eben nicht so wirkt wie ›Hallo alle, ich habe kein Leben und warte deshalb monatelang verzweifelt darauf, dass wieder Trashfernsehen läuft, damit ich endlich auch mal ein social event bei mir ausrufen kann‹. Halt nicht so von wegen ›Hallo, wer kommt zu mir auf die Couch, ich habe keine Freunde!‹«
Anna schmeckt ihr Dressing ab, während Marie kurz Luft holt.
»Weißt du,
ich
glaube ja«, fährt Marie fort, als wäre sie gerade dabei, ein Rätsel zu knacken, »ich glaub ja, dass die das dann einfach komplett
vergisst
, wie das auf andere wirkt. Ich glaub ja, dass die gar nicht daran
denkt
, dass das total opferig und richtig krass desperate rüberkommen könnte. Dass sie dann vergisst, dass das dann
alle
sehen können. Weil ja gerade
sie
auch so eine ist, die mit
all
ihren Kollegen vom Job befreundet ist …«
»Mmm«, sagt Anna.
»… und
die
finden das sicher
so richtig
creepy, wenn die sowas lesen … also, da bin ich mir
ganz
sicher. Das müsste man ihr eigentlich fast mal sagen …«
»Hmm«, sagt Anna.
Marie schweigt. Nur das Klicken von ihrer Maus ist noch zu hören.
»Naja«, sagt Anna und tippt mit dem Esslöffel die schimmernden Ölperlen in ihrer Salatsoße an.
»Kommst du denn da jetzt eigentlich hin?«, fragt Marie Anna, während sie weiterklickt, mit etwas ruhigerer, fast gleichgültiger Stimme. »Also, ich würd schon kommen«, sagt sie. »Ist ja auch ein Sonntag, da macht man ja sowieso nix, aber ich hab da, glaub ich, auch keine Lust alleine hinzufahren.«
Anna tunkt ein Salatblatt in die Vinaigrette. »Klar, wenn du magst, komm ich auch.«
Marie tippt und klickt jetzt abwechselnd. »Ich kann ihr ja einfach schreiben, dass wir beide kommen. Aber ganz sicher sag ich das nicht auf Facebook zu, ich hab grad schon »entfernen« gemacht. Ich will das ja nicht auch noch auf
meiner
Pinnwand stehen haben.«
»Nee, das will man nicht«, sagt Anna mit vollem Mund.
»Gut, also ich hab ihr jetzt gemailt. Ich hab gesagt, wir freuen uns und bringen noch irgendwas zu knabbern mit. Aber jetzt ruf du erst mal deine Mutter an. Und grüß sie schön. Und ich versuch’s später einfach noch mal bei dir. Und wir sprechen schnell! Und stress dich nicht! Und pass auf dich auf!«
»Du auch auf dich«, sagt Anna und mischt ihren Salat.
*
Herr G. scheint noch einen letzten Anlauf nehmen zu wollen. »Meinen Sie denn, dass Sibylle die Beziehung zu Ihnen genau so wie Sie empfindet?«, hört Bastian ihn fragen. »Hat sie außer Ihnen in den letzten Jahren noch andere enge Verbindungen zu Männern gehabt?«
Bastian wendet seinen Blick von der Uhr ab.
»Wissen Sie was?«, sagt er mit unterkühlt höflicher Stimme, »Ich glaube, ich würde heute offen gestanden lieber gerne über etwas anderes sprechen.«
*
Seit wir uns vor
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