Wir haben keine Angst
die Abschiedsformel unter seiner letzten Nachricht war?«, fragt sie Marie. »Was hat er da noch geschrieben? ›Ich denke an dich‹ und wie dann weiter …?«
»Moment.« Marie sucht in ihrem SMS -Eingang. Im Hintergrund plätschert es. Marie liegt gerade im Eukalyptus Erkältungsbad, das Anna ihr vorhin, als sie sich plötzlich krank gefühlt hatte, zur sofortigen Anwendung und ohne Recht auf Widerrede verordnet hat.
»Scheiße«, murmelt Anna. Vor der Wohnungstür sind ihre Taschen umgekippt. Während sie gebückt Stufe für Stufe zurückkriecht, um sämtliche Äpfel, Orangen und Ingwerstücke wieder in ihre Tüten zu sammeln, lauscht sie der Verlesung von Maries SMS -Dialog.
Marie und ihr neuer Kollege aus dem Layout, mit dem potentiell was gehen könnte, eiern nun schon seit zwei Wochen um den heißen Brei herum. Dabei braucht Marie viel eher jemanden, der gleich rangeht. Sonst hat es eigentlich von Anfang an keinen Sinn. Am liebsten würde Anna den Typen anrufen und ihm das sagen. Sie könnte ihm genaueste Anweisungen geben, wie man Marie um den Finger zu wickeln hat. Anna könnte Marie sofort den perfekten Mann backen. Aber so läuft es ja leider nicht.
»Naja, der kann das halt nicht«, sagt Anna abgeklärt, als Marie mit dem Vorlesen fertig ist. »Der ist halt mehr so ’n visuell denkender Typ. Der kann eben nicht schreiben. Und das wird der auch nie können. Da muss man sich gar keine Hoffnungen machen.«
»Hmm«, sagt Marie.
»Marie-Süße«, sagt Anna liebevoll, »du denkst da schon jetzt wieder viel zu viel dran rum. Dabei habt ihr euch doch noch nicht mal geküsst …«
»Hmm«, sagt Marie. Im Hintergrund blubbert das Badewasser.
»… und ganz ehrlich: Ich weiß wirklich nicht, ob es so gut wäre, dich da jetzt komplett reinzuschmeißen und weiter zu investieren, wenn du dir gar nicht sicher bist, was du eigentlich willst … und er es offensichtlich ja nicht schafft, dir mehr Sicherheit zu vermitteln. Verstehst du, wie ich das meine?« Anna kickt ihre Wohnungstür zu, sie schmeißt ihren Schlüsselbund auf den Schuhschrank und lässt die Tüten fallen. Wieder kullern die Äpfel in alle Richtungen auf den Boden. Anna lässt sie liegen.
»Hmm«, sagt Marie nach einigen Sekunden Stille. »Aber irgendwas antworten muss ich ihm ja trotzdem noch, oder?« In ihrer Stimme liegt halb gespielte, halb reale Hilflosigkeit.
Anna und Marie konferieren heute nun schon zum fünften Mal. Normalerweise hören sie sich eher zwei- bis dreimal pro Tag, aber heute herrscht bei Marie schließlich akuter Beratungsnotstand.
Anna und Marie arbeiten laufend zusammen auf, was in ihrer beider Leben geschieht: bei ihren Männern, in ihren Jobs, ihrem Gefühl, ihrem Befinden und in ihren Therapiestunden. Mal in längeren, mal in telegrammartig kürzeren Sitzungen besprechen die beiden all das, was in der Zwischenzeit passiert ist, gehen gemeinsam das durch, was bald passieren wird und wägen im Voraus all das ab, was noch passieren könnte.
Ohne dass es jemand von außen so sehr bemerkt hätte, haben sich Anna und Marie während der letzten Jahre auf diese Weise jeden Tag aufs Engste begleitet. Sie haben alles von sich geteilt: jede Entscheidung, jede Sinnkrise, jedes Fest, jeden Umzug, jeden Geburtstag, jede Trennung, jedes Date, jeden Sex, jede Blasenentzündung, jede vergessene Pille, jeden Alptraum, jede Kritik, jeden Streit, alle gelesenen Bücher, alle gesehenen Filme, alle gehörten Bibi-Folgen.
Außerdem müssen Anna und Marie jeden Schritt, den sie tun, von der anderen abgesegnet wissen. Jeden wichtigen Brief, jede wichtige Mail, jede wichtige Nachricht, die Marie seit dem Abi verschickt hat, hat Anna mitgelesen. Alles an relevanter Kommunikation hat sie für Marie vorab redigiert, oder im Nachhinein kommentiert, wenn ihr die Nachricht, sobald sie rausgegangen war, weitergeleitet wurde. Denn Anna ist Maries ewiges, automatisches CC . Sie ist ihr direktes, sofortiges Feedback. Ihr Coach. Ihre Vertraute. Ihre Absicherung. Bei allem, was sie tut.
»Halt mich auf dem Laufenden«, sagt Anna in knapper Professionalität, nachdem sie Marie die Antwort- SMS für den unfähigen Graphiker zu Ende diktiert hat. Sie fischt eine Milchschnitte aus ihrer Einkaufstasche. »Du hast jetzt wirklich alles getan, Marie. Und wenn er dann immer noch zu doof ist, darauf richtig zu antworten, dann hat er halt verkackt. Du musst jetzt einfach nur abwarten. Und dann sehen wir weiter.«
»Ja, du hast recht. Wir warten jetzt erst
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