Wir haben keine Angst
weil wir uns in unserem Netzwerk nie so ganz sicher sein können, wie dicht die Maschen unserer Bekanntschaft gestrickt sind, wollen wir dort unbedingt und von allen gemocht werden. Im Idealfall soll das ganze riesige Netzwerk über uns denken und am besten noch weitersagen, wie unglaublich witzig, spannend, klug, hübsch, eloquent, natürlich und cool wir sind.
Zumindest sollte es nicht das Gegenteil von uns denken. Denn obwohl wir vielleicht ganz gut verdrängen können, dass man hinter unserem Rücken über uns spricht, wissen wir sehr gut, wie es jenseits der für alle lesbaren Statuszeilen und Kommentare zugeht. Wir wissen, welche Dinge in welchem Tonfall dort, durch die einzelnen Kanäle, in denen keiner zuhören und mitlesen kann, über andere herumgefunkt werden.
Wir wissen es, weil wir es auch tun. Und zwar ständig. »Weißt du«, sagen wir dann zum Beispiel über irgendjemand Dritten,
»das ist so einer, der postet auf Facebook, was er zu Mittag gegessen hat.«
»das ist so eine, die trägt ihr Handy in einer Babysocke mit ’nem Diddl-Maus-Anhänger mit sich herum.«
»das ist so eine, bei der löst ein Freund nahtlos den vorherigen ab.«
»das ist so einer, der rasiert sich die Brusthaare.«
»das ist so einer, der kann sich nicht vorstellen, Elternzeit zu nehmen.«
»das ist so eine, die hat die
Glamour
abonniert.«
»das ist so einer, der studiert im achtzehnten Semester und leitet die Fachschaft.«
»das ist so eine, die geht viermal die Woche zum Spinning.«
»das ist so einer, der zitiert ständig die
Simpsons
.«
»das ist so eine, die sagt ›Latte Macchiati‹.«
»das ist so einer, der hört bis nachts um vier Radiohead und betrinkt sich alleine.«
»das ist so eine, die rülpst einfach mal ganz laut, weil sie das lustig findet.«
»das ist so einer, der filmt später die Geburt seines Kindes mit der Kamera.«
»das ist so eine, die das Schutzengel-Tarot befragt.«
»das ist so einer, der öffnet Bierflaschen mit den Zähnen.«
»das ist so eine, die hat auf dem Computer als Hintergrundbild ein Foto von ihrem Freund.«
»das ist so eine, die hat so Bilder in ihrer Küche hängen auf denen »Cappuccino« steht.«
»das ist so einer, der hört auf, die Musik einer Band zu hören, sobald sie jemand anderes kennt.«
»das ist so eine, die isst nur das, was freiwillig vom Baum gefallen ist.«
»das ist so einer, der schenkt zum Valentinstag Blumen.«
Wir meinen das gar nicht böse, wenn wir so etwas sagen. Wir meinen es noch nicht einmal unbedingt bewertend. Wir wollen eben nur möglichst viel beschreiben und dabei möglichst wenig sagen. Wir wollen die Leute, die wir meinen, eben nur schnell in einem einzigen Bild zusammenfassen. Nur der Einfachheit halber. Weil es so halt praktischer ist.
Und überhaupt: Wir sagen ja auch nur das, was sowieso jeder beobachten kann. Und beobachten kann man eben viel. Denn dazu ist so ein Netzwerk ja auch irgendwie da.
*
Anna erkennt Marie schon von weitem. In ihrem roten Mantel sticht Marie aus der Masse von Passanten, die wie sie an der Ampel warten. Als Marie Anna auf der anderen Straßenseite erblickt, strahlt sie und winkt mit ihrer freien Hand über den Zebrastreifen. Sie ist noch am Telefon. Durch die Autos hindurch sieht Anna, wie Marie die Augen verdreht, während sie spricht und zuhört.
»Wer?«, haucht Anna leise mit den Lippen und deutet aufs Telefon, als sie Marie in der Mitte der Straße umarmt.
»Meike«, haucht Marie und hakt sich bei Anna ein. »Ja«, sagt sie laut in ihr Handy, »nee, das ist doch okay, mach dir keinen Stress … Ach, Quatsch, mach dir keinen Kopf«, Marie untermalt das Gespräch mit einer kreisenden Handbewegung in der Luft, als wolle sie beim Fluss der Worte, die durch den Hörer kommen, auf Vorspulen schalten. Anna lächelt sie mitleidig an. Sie streicht Marie über die Wange. Die beiden halten vor dem Starbuck’s an der nächsten Kreuzung. »Wie immer?«, flüstert Anna. Marie nickt. Sie kramt mit der freien Hand in ihrer Tasche nach Geld, aber Anna ist längst verschwunden.
Als sie in der Schlange zur Kasse wartet, muss Anna lächeln, so vertraut ist ihr Maries Gestikulieren beim Sprechen, das sie durch die Fensterscheibe beobachten kann. Für ihre Freundschaft macht es zwar kaum einen Unterschied, wo Anna und Marie gerade leben. Die Nähe zwischen ihnen war während der letzten zwei Jahre, die sie eine Fernbeziehung führen mussten, genau so groß wie jetzt. Aber darüber, dass sie Marie im Moment einfach so mal
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