Wir haben keine Angst
eben, wenn sie gerade Lust hat, sehen kann, weil sie jetzt wieder nur ein paar Straßen voneinander entfernt wohnen, freut sich Anna trotzdem jedes Mal von neuem.
*
»Also gut, wie Sie möchten«, sagt Herr G. und legt den Notizblock auf den Boden zwischen seine Füße. »Dann sprechen wir jetzt also über etwas anderes.«
Bastian schweigt. Er starrt auf Herrn G.s Hände. Ganz leise tickt die Uhr auf dem Tischchen am Fenster. In schier grausamer Geduld beginnt Herr G. damit, seinen Kugelschreiber langsam auf der offenen Handfläche vor- und zurückrollen zu lassen. Der Stift rollt immer knapp bis zu dem Punkt, an dem er von der Hand auf den Boden fallen würde. Bastian rutscht auf seinem Stuhl hin und her. So kann er es hier unmöglich noch eine halbe Stunde lang aushalten.
»Okay«, lenkt er ein, »dann fragen Sie mich etwas Neues.«
Herr G. hält den Stift an. Er blickt auf. Sein Blick ist freundlich.
»Haben Sie auch einen besten Freund?«, fragt er. »Also einen männlichen besten Freund, meine ich?«
Bastian atmet auf. Er hatte fast schon gedacht, Herr G. wäre nach seinem Ausraster eben beleidigt.
»Klar«, sagt er. »Malte. Den kenn ich, seit ich drei Jahre alt bin.« Er lächelt. »Ist ’n guter Typ.«
Auf einmal bekommt Bastian doch ein bisschen Lust zu reden. Herr G. muss gar nichts weiter fragen. Er nickt jetzt nur noch ab und zu aufmunternd hinüber, während Bastian von selbst erzählt und erzählt.
*
Es stimmt schon: Wirklich kennen tun wir diejenigen, über die wir da ständig sprechen, nicht. Wir haben meistens nur kurz mal auf einer Party mit ihnen geredet, hatten irgendwann einmal beruflich mit ihnen zu tun, haben ihre Fotoalben durchgeklickt oder sie einfach nur im Bus oder im Supermarkt für ein paar Minuten beobachtet.
Eigentlich wissen wir ja auch, dass das nicht reicht, um wirkliche Aussagen über jemanden treffen zu können. Aber unsere Menschenkenntnis ist nun mal ziemlich gut. Und je öfter wir jemanden treffen, je genauer wir ihn aus Neugier oder Langeweile bei Facebook abgestalkt und aus Gesprächen über ihn und seine Freunde erfahren haben, desto schneller und besser wird aus unserer ersten Momentaufnahme ein richtiges Bild. Ein Bild, mit dem man richtig etwas anfangen, das man richtig interpretieren kann.
Denn uns reicht es nicht, ständig nur uns selber zu beobachten und nur unser eigenes Verhalten zu durchdenken. Das Leben der anderen finden wir mindestens ebenso spannend. Weshalb wir es in einem Abwasch mit unserem eigenen kurzerhand auch gleich einmal schön durch unseren Analysewolf drehen. So lange, bis wir das Wesentliche zu wissen meinen. Bis wir meinen zu wissen, wie die Dinge bei denen, die wir kennen,
eigentlich
liegen. Denn oft genug ist das, was wir da erspüren und entlarven, gar nicht so offensichtlich. Oft ist es sogar so verborgen, dass die Leute es selbst noch gar nicht über sich wussten. Zum Beispiel,
dass sie ihren Job schon lange nur noch des Geldes wegen machen, und nicht, weil er ihnen wirklich Spaß bringt;
dass sie mit ihren Statussymbolen eigentlich nur versuchen, ihre Unsicherheit zu kompensieren;
dass sie eigentlich gar nicht so stark sind, wie sie sich immer geben;
dass sie nur ständig an allem rummäkeln müssen, weil sie ihre Probleme lieber auf etwas anderes projizieren, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen;
dass sie sich gar nicht mehr richtig öffnen können, weil sie einmal so schlechte Erfahrungen gemacht haben;
dass sie Freundschaft mit Liebe verwechseln und ihnen in ihrer Beziehung irgendwann das Körperliche fehlen wird;
dass sie einen ganz schönen Knacks von zu Hause mitgenommen haben und deshalb kein wirkliches Vertrauen zu irgendwem mehr aufbauen können;
dass sie nur deshalb gleich ihre Sandkastenliebe geheiratet haben, weil sie zu feige waren, sich in die wirkliche Welt hinauszutrauen;
dass mit ihrem Partner auch nicht alles so rosig ist, weil sie sonst ja wohl schon längst mal ein bisschen mehr Commitment gezeigt hätten;
dass sie sich, seit das Kind da ist, als Paar eigentlich gar nichts mehr zu sagen haben;
dass sie eigentlich
doch
ein Problem mit ihrem Gewicht haben;
dass sie eigentlich
doch
schwul sind;
dass das für sie eigentlich
doch
mehr als Freundschaft ist;
dass sie bei allem, was sie tun, eigentlich nur versuchen, ihre Elternkomplexe zu heilen;
dass sie schon viel zu lange in einer ungesunden Symbiose leben;
dass das bei ihnen auch sehr viel mit Verdrängung zu tun hat.
Natürlich sind auch das alles
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