Wir haben keine Angst
schlechtes Gewissen hat. Die Sorge, dass irgendwer es ihr übelnehmen wird, wenn sie sich nicht bald endlich einmal wieder meldet, und die Angst, dass irgendwer aus diesem Grund schon lange auf sie böse ist, begleiten sie auf Schritt und Tritt. Und Anna schafft es weder, diese Sorge abzuschütteln, noch das Tempo des Menschenmarathons, den sie sich selber aufhalst, zu drosseln. Manchmal hat sie sogar das Gefühl, noch nicht einmal mehr für sich selbst greifbar zu sein.
Denn sie ist ja immer schon wieder auf dem Sprung. Auf dem Sprung von einer Einheit zur nächsten.
*
»Dem Malte ging es ’ne Zeitlang mal so richtig dreckig«, erzählt Bastian. »Vor ein paar Jahren, als der noch zwischen Deutschland und Spanien gependelt ist. Der hatte Angst, dass er das Falsche macht, er dachte, mit seiner Freundin klappt’s nicht, seiner Mutter ging’s hier super schlecht … War übel.«
Seit Bastian Malte erwähnt hat, hat Herr G. sich keinen Millimeter mehr bewegt. Als hätte er Angst, dass er Bastians Redefluss sonst stören könnte, sitzt er, reptilienartig, komplett still auf seinem Stuhl.
»Naja, also dem ging’s so richtig scheiße. Und da hat er mich angerufen. Um vier Uhr morgens. Der saß total besoffen vor einer Bar in Barcelona und hat geheult. Hat einfach nicht mehr aufgehört. Meinte, er weiß irgendwie nicht weiter, kann nicht mehr, ist einfach total durch. Will aber auch nicht nach Hause. Weil er auch noch Stress mit seinem Mitbewohner hatte und ihm da die Decke auf den Kopf fiel. Er meinte, das Einzige, was er will, ist, mich zu sehen. Dass das das Einzige wäre, was ihm helfen würde.«
Ganz vorsichtig neigt Herr G. den Kopf ein kleines Stück nach vorne. »Und was haben Sie dann gemacht?«
Bastian setzt sich auf. »Naja, ich war an dem Abend zwar auch unterwegs und auch schon ganz schön dicht, aber man wird dann ja plötzlich ganz klar, wenn’s wichtig ist …«
Herr G. nickt vorsichtig.
»… ich hab dann eigentlich sofort gesagt: ›Pass auf, Alter, du gehst jetzt nach Hause, holst dir den Schlafsack raus – das war übrigens noch mein alter Schlafsack – und gehst an den Strand. Da packste dich an die Stelle, wo wir letzten Sommer immer waren, und tust nichts anderes, als auf mich zu warten. Nichts anderes. Versuch meinetwegen zu pennen oder so. Auf jeden Fall wartest du da und rührst dich nicht vom Fleck. Und dann komm ich vorbei.‹«
»Und das haben Sie dann gemacht?«
»Das hab ich dann gemacht, ja.«
Bastian lacht. »Am Ende, in Barcelona, die letzten Meter zum Strand, bin ich sogar gerannt. Ich hatte ja nix dabei, deshalb konnte ich so richtig rennen, so schnell ich konnte halt. Hab krass geschwitzt, da war’s schon richtig warm morgens, war total außer Atem. Und da lag der dann, der Malte. Ganz friedlich. Und hat sich irrsinnig gefreut, als ich ihn geweckt hab. Irrsinnig. Wie so’n Kind. Und ich mich natürlich auch.«
Bastian schüttelt lächelnd den Kopf.
»Das war irgendwie … das war echt ein kleiner ganz großer Moment. Also, wenn das Wort jetzt nicht so extrem blöde klingen würde, war das mit das Größte, das ich je getan hab, glaub ich. Nur so von der Bedeutung her, mein ich …«
»War das etwas, das von Herzen kam?«, fragt Herr G. Sogar er muss bei dieser Frage ein wenig schmunzeln.
Bastian lacht. Sein Lachen klingt herzlich. »Also, ich wollte Ihnen jetzt grad nicht eröffnen, dass ich schwul bin. Aber wenn Sie so wollen: Ja. Das kam direkt von Herzen. Weil da ging’s halt irgendwie mal richtig um was. Das war halt was, das nicht egal war. Und es war was, das ich jederzeit wieder tun würde.«
Herr G. nickt. Er lächelt.
Es ist doch eine gute Sitzung, denkt Bastian. Im Augenwinkel sieht er die Uhr. Noch zwei Minuten.
»Hören Sie Malte oft?«, fragt Herr G. als Letztes.
»Nee«, antwortet Bastian, »aber wenn wir uns sehen, isses gleich immer total intensiv. Und unsere Touren im Sommer, die sind … also, das ist jetzt leider schon wieder so ein furchtbar großes Wort, aber so isses eben: Die sind mir echt heilig. Weil ich dann echt rauskomme hier. Und weil ich dann jedes Mal wieder sehe, dass es stimmt: dass dieser eine Typ immer für mich da ist. Dass der jederzeit von egal wo auf der Welt zu mir kommen würde, wenn’s mir dreckig ginge.« Bastian nickt. »Jederzeit.«
*
Bei uns piept es den ganzen Tag. Wir haben immer etwas im Ohr. Unsere Köpfe sind das Sammelbecken für sämtliche Weck-, Erinnerungs- und Klingeltöne, sie sind die
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