Wir haben keine Angst
nur Vermutungen. Kann sein, dass sie nicht stimmen. Oder dass sie stimmen, aber die von uns attestierten Gründe doch ganz andere sind.
So
gut kennen wir diejenigen, die wir da analysieren, ja nun auch wieder nicht. Und eigentlich geht uns das alles ja auch überhaupt gar nichts an.
Aber genau deshalb sagen wir ja auch nichts davon öffentlich.
*
»Na gut, du«, flötet Marie ins Telefon, als Anna aus dem Café kommt und ihr den Pappbecher mit dem Karamell-Macchiato in die Hand drückt, »ich lass dich jetzt da auch mal weitermachen, Meiki. Wir kommen nachher ja auch gleich vorbei, wir trinken hier nur noch schnell ’nen Kaffee. Prima! Ja! Bis dann! Wir freuen uns!«
Demonstrativ tippt Marie mit dem Zeigefinger auf ihr iPhone, um aufzulegen. » BOAH «, stößt sie aus, als hätte sie fünf Minuten lang die Luft anhalten müssen. »Diese Frau kann einen
echt
fertig machen. Die textet mich
so extrem
zu, das kannst du dir nicht vorstellen.
Ständig
ruft sie an,
ständig
!« Marie stopft ihr Handy in ihre Jackentasche und hakt sich wieder bei Anna ein.
»Merkt die denn nicht, dass dir das ein bisschen viel wird?«, fragt Anna behutsam und schüttet Marie die Hälfte ihres Päckchens braunen Zuckers in den Kaffee.
»Offensichtlich ja nicht!«, Marie rührt hektisch durch den Karamellschaum. »Und ich kann sie ja nun auch nicht immer wegdrücken, wenn sie anruft. Da komm ich mir ja auch irgendwie fies vor. Aber eigentlich müsste ich das echt mal machen. Weil, weißt du, ich
seh
doch, wenn die angerufen hat, da muss sie doch nicht gleich noch fünfmal versuchen mich zu erreichen, oder?!«
Anna nickt.
»Ich denk dann echt ›Hallo, Mädel,
check’s
doch mal endlich, dass ich einfach nicht so eng mit dir bin‹. Also, ich mein, selbst wenn ich das sein
wollte
, ich hätte dafür ja gar keine Kapazitäten mehr! Ich seh ja
dich
schon kaum!«
Anna nickt. Sie versteht Marie wirklich ganz gut. Denn was Freundschaften angeht, ticken Anna und Marie ziemlich ähnlich.
*
Bastian sprudelt jetzt. Er erzählt, dass Malte und er bis zum Abi unzertrennlich waren. Dass sie sich jeden Tag gesehen haben. Dass Malte mittlerweile leider in Spanien wohnt. Dass er sich dort im Auslandssemester verliebt hat. Dass er coolerweise nach seinem Abschluss in Deutschland auch beruflich ziemlich schnell Fuß da unten fassen konnte. Dass Bastian deshalb stolz auf ihn ist. Weil Malte alles, was er sich vornimmt, auch wirklich umsetzt.
Bastian erzählt, dass die Fernbeziehung zu Malte eigentlich echt ganz gut funktioniert. Dass sich die beiden, bevor Malte weggezogen ist, geschworen haben, sich nie länger als ein halbes Jahr nicht zu sehen. Dass Malte seitdem immer an Weihnachten kommt und Bastian ihn im Sommer besuchen fährt. Und sie dann mit dem Auto wegfahren. Dass sie sich dann einfach treiben lassen, ohne Plan. Dass es dann nämlich eigentlich egal ist, wo sie hinfahren. Hauptsache, sie sind zusammen.
Herr G. nickt.
Bastian kramt uralte Erinnerungen an Malte und sich heraus, er erzählt Herrn G. tausend kleine Geschichten: von Weihnachten und Silvester, von der Schule, vom Trampen durch Südamerika nach dem Abi, von der Autopanne im letzten Jahr mitten in der Pampa in den Pyrenäen. Davon, wie sie zusammen mit einem baskischen Opa mitten in der schlimmsten Mittagshitze vergeblich versucht haben, die Karre den Berg hochzuschieben.
Bastian schüttelt den Kopf. »Mit Malte hab ich echt schon endlos viele krasse Momente erlebt.« Er lächelt.
Herr G. lächelt zurück. Bastians Geschichten scheinen ihn wirklich zu interessieren.
*
Genauso wie Marie hat Anna ihr Sozialleben bis ins Letzte durchorganisiert. Woche für Woche führt sie To-Do-Listen darüber, wann sie welche Leute anrufen muss, akribisch zerstückelt sie vor ihrem Timer sitzend die wenigen arbeitsfreien Stunden in kleine Einheiten und verteilt sie dann so gerecht wie möglich an die Menschen, die ganz oben auf der Liste stehen. Doch trotz dieses professionellen Zeitregimes ist Anna eigentlich immer im Sozialstress. Wie Marie tut sie eigentlich nichts anderes, als permanent sich selbst hinterherzuhetzen. Denn es nimmt schlichtweg kein Ende mit all den Menschen. Gefühlte tausend Leute zerren von allen Seiten an ihr, irgendwer will immer irgendwas von ihr. So geht es Tag für Tag, Woche für Woche.
Das Pensum an Treffen, Telefonaten, e-Mails und SMS , das Anna eigentlich schaffen will, erreicht sie deshalb sowieso nie. Weshalb sie wie Marie eigentlich permanent ein
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