Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Ewigkeit mit Fremden aus Walhalla und Nibelheim zu tun hatte, klang der Name Bristol angenehm vertraut.
»Das ist bestimmt L. Walker«, entgegnete er. »Wo wartet die Dame?«
Die Haushälterin erklärte, die Dame sitze im Salon, und Malcolm hatte sich schon auf den Weg gemacht, bevor ihm einfiel, daß er sich gar nicht erkundigt hatte, welcher Salon überhaupt gemeint war. Schließlich fand er die Besucherin im Blauen Salon.
L. Walker war etwas über einen Meter sechzig groß, ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, hatte dunkles Haar und das Gesicht eines Engels. Malcolm, der genau wußte, wie ein Engel aussah, da er sich in einem ruhigen Augenblick selbst einmal in einen verwandelt hatte, wurde von einem äußerst merkwürdigen Gefühl ergriffen, als könne er nicht mehr atmen.
»Herr Finger?« fragte die junge Frau. »Ich bin Linda Walker. Ich komme, um die Bibliothek zu katalogisieren. Miß Weinburger …«
»Ja, natürlich.« Malcolm hatte keine Lust, jetzt etwas von der englischen Rose zu hören. Er wollte vielmehr wissen, warum ihm die Knie so weich geworden waren, als hätte er gerade einen Dauerlauf hinter sich. Es trat eine lange Stille ein, in deren Verlauf Malcolm die Fähigkeit zurückzugewinnen versuchte, seinen Verstand zu gebrauchen.
»Könnte ich vielleicht einmal die Bibliothek sehen?« fragte das Mädchen.
»Ja«, antwortete Malcolm. »Die ist irgendwo da drüben.«
Zu guter Letzt fand er sie sogar – eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, daß er gerade von einem Blitz oder zumindest von etwas Ähnlichem getroffen worden war. Er öffnete die Tür und deutete auf die Bücherreihen.
»Das ist sie«, stellte er unnötigerweise fest.
»Gut«, erwiderte das Mädchen. »Ich denke, ich fange gleich mit der Arbeit an, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Je früher ich mich dranmache, desto eher stehe ich Ihnen nicht mehr im Weg.«
»Das hat gar keine Eile, ehrlich«, entgegnete Malcolm schnell. »Nehmen Sie sich bitte so viel Zeit, wie Sie wollen.«
Das Mädchen blickte ihn an und lächelte. Malcolm war zu der Überzeugung gelangt, er sei mittlerweile ziemlich gut gerüstet, um damit fertig zu werden. Doch dies war ein ganz neues Lächeln: kein fröhliches, optimistisches, sondern ein trauriges, wehmütiges Lächeln. Es fragte nicht: ›Wäre es nicht schön, wenn …‹, wie das Standardlächeln eines Rheinmädchens, sondern: ›Wäre es nicht schön gewesen, wenn …‹ Und das ist ein gewaltiger Unterschied.
»Danke«, antwortete das Mädchen. »Dann fang ich mal gleich an.«
Malcolm hatte langsam das Gefühl, als gleite ihm etwas, das er unbedingt haben wollte, durch die Finger. »Wo wohnen Sie denn?« erkundigte er sich.
»Im Hotel George and Dragon«, erwiderte das Mädchen. »Ich hoffe, das ist in Ordnung. Miß Weinburger hat mir dort ein Zimmer reserviert.«
»Wenn Sie wollen, können Sie auch hierbleiben. Wir haben Unmengen an Platz.«
Kaum waren ihm diese Worte über die Lippen gekommen, wünschte sich Malcolm, er hätte sie nie ausgesprochen. Dieses Mädchen hatte irgend etwas an sich, wodurch er sich wie ein Raubtier vorkam; dabei waren ihm derartige Gedanken nicht einmal eine Sekunde lang in den Sinn gekommen. Das Mädchen blickte ihn ungefähr eine Dreiviertelsekunde lang an (obwohl es viel länger zu dauern schien). Dann verzog sich ihr Engelsgesicht erneut zu einem Lächeln, diesmal in der Richtung von: ›Es ist hoffnungslos, und wir wissen das beide, aber …‹
»Das Angebot nähme ich gern an«, antwortete sie. »Aber nur, wenn es Ihnen auch ganz bestimmt nicht ungelegen kommt.«
Was Malcolms Einstellung zu diesem Punkt betraf, so könnte man sie als Definition des Worts ›gelegen‹ ins ›Deutsche Wörterbuch‹ übernehmen. »Ich lasse Ihnen von der Haushälterin ein Zimmer herrichten«, entgegnete er. »Was glauben Sie, wie lange Sie brauchen werden?«
»Ungefähr eine Woche, wenn ich heute anfange«, erwiderte das Mädchen.
»Aber sind Sie denn nach der Reise nicht sehr müde? Nebenbei, wie sind Sie überhaupt hergekommen?«
»Ich habe den Zug nach Taunton genommen und bin dann mit dem Bus nach Combe gefahren«, erklärte das Mädchen.
Malcolm war über die Vorstellung, daß ein solches Mädchen mit Bus und Bahn fahren mußte, regelrecht schockiert. Am liebsten hätte er ihr angeboten, ihr ein Auto zu kaufen, aber das hätte sie wahrscheinlich falsch verstanden.
»Hat das lange gedauert?« Eine dumme Frage, und außerdem ging ihn das eigentlich nichts an.
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