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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Warum sollte er sich für die Fahrzeit interessieren? Merkwürdigerweise sagte das Mädchen nichts dergleichen, sondern beantwortete bereitwillig seine Frage.
    »Ach, so ungefähr drei Stunden. Leider habe ich in Taunton den direkten Anschluß verpaßt.«
    Sosehr er sich auch bemühte, Malcolm fiel einfach keine Möglichkeit ein, das Gespräch noch weiter in die Länge zu ziehen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er als nächstes sagen oder tun sollte. Das war ein Jammer, denn er konnte sich zur Zeit überhaupt nichts Wichtigeres vorstellen.
    »Na ja«, sagte er schließlich, »dann lasse ich Sie jetzt lieber in Ruhe anfangen. Bis dann.«
    Er verließ die Bibliothek und kehrte langsam zum Salon zurück, wobei er unterwegs gegen mehrere Möbelstücke prallte. Ihm war völlig klar, daß das Ganze eine ziemlich schlimme Sache war. Die Realität hatte ihn also schließlich doch noch eingeholt. Nicht in Form eines Zollbeamten oder des Dezernats für unerklärliche Phänomene, mit denen er wahrscheinlich noch fertig geworden wäre, sondern in Gestalt des schalkhaft-grausamen Knaben mit den goldenen Pfeilen, der sich gerade im Stimmbruch befand und deshalb Malcolms Herz als Dartscheibe mißbraucht hatte. Dieses Mädchen war keine Rheintochter aus seiner eigenen Welt, in der er bislang gelebt hatte und deren Beherrscher er war, sondern ein Mitmensch, ein lebendes Wesen, eine potentielle Quelle großer Traurigkeit.
    »O Gott!« stöhnte Malcolm. »Nicht schon wieder!«
    Er setzte sich auf die Treppe und blickte zur Bibliothekstür hinüber. Wenn er jetzt wegginge, könnte er womöglich den Zeitpunkt verpassen, wenn Linda herauskäme, und das wäre eine Katastrophe. Dann fiel ihm ein, daß er sich ja unsichtbar machen und sie beim Katalogisieren beobachten könnte, was bestimmt der herrlichste Anblick der Welt wäre. Er schloß die Augen und verschwand.
     
    An den unheilsamen Wassern des Tone stand Floßhilde und beobachtete den vergeblichen Versuch einer Möwe, einen alten Reifen zu fangen und zu fressen. In gewisser Hinsicht wußte sie, was das für ein Gefühl war, und aus purem Mitleid lächelte sie den Reifen an, der sich sogleich hilfsbereit in einen Fisch verwandelte. Die Möwe, die schon immer gewußt hatte, daß Hartnäckigkeit und Ausdauer letztendlich zum Ziel führen, verschlang ihn – das war zwar Pech für den Fisch, aber schön für die Möwe. Schließlich kann man es nicht immer allen recht machen, überlegte Floßhilde, die aufgrund der Bedeutung dieser Beobachtung für ihren eigenen Fall plötzlich sehr nachdenklich wurde.
    Natürlich hatte sie keinen logischen Grund, etwas anderes als glücklich zu sein, doch in Fragen des Glücks spielt Logik bekanntlich nur eine unbedeutende Rolle. Zunächst einmal war es ärgerlich, daß Malcolm den Tag lieber mit einer langweiligen Bibliothekarin verbrachte als mit einer hinreißenden Rheintochter. Zweitens war es ärgerlich, daß sie sich darüber ärgerte. Eigentlich war der zweite Ärger der schlimmere, zumindest redete Floßhilde sich das ein. Der erste unerfreuliche Punkt war bloß eine Frage ihrer eigenen Eitelkeit (sagte sie sich selbst). Der zweite unerfreuliche Punkt hingegen konnte ernsthafte Folgen für ihre berufliche Laufbahn haben. Eine verliebte Rheintochter wird es aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem Beruf nicht allzuweit bringen, ähnlich einem blinden Chauffeur. Trotzdem war sie, sosehr sie sich auch bemühte, einfach nicht in der Lage, sich über diese Aussicht große Sorgen zu machen; und das wiederum war noch sehr viel schlimmer …
    »Mist!« fluchte sie.
    Auf einmal sprang Wellgunde, die unter der Wasseroberfläche langsame Kreise gezogen hatte, ans Ufer. »Ha, erwischt!« rief sie. »Hast dich richtig feingemacht und weißt nicht, wo du hingehen sollst.«
    Floßhilde streckte ihr die Zunge heraus, doch Wellgunde beachtete sie gar nicht. »Ich dachte, du wärst mit deinem Freund unterwegs«, neckte sie ihre Schwester und schüttelte sich das Wasser aus dem Haar.
    »Tja, bin ich eben nicht«, antwortete Floßhilde.
    »Zeigst ihm wohl ein bißchen die kalte Schulter, wie?«
    In diesem Moment hätte Floßhilde gern die Fähigkeit besessen, ihre Schwester in einen kleinen Kahn zu verwandeln. »Hast du nichts Besseres zu tun?« fragte sie genervt.
    »Ich leiste dir lieber Gesellschaft«, entgegnete Wellgunde. »Du siehst aus, als könntest du ein bißchen Aufmunterung gebrauchen.«
    »Vielen Dank, ich bin ausgesprochen guter Dinge«,

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