Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
dafür reicht sein Verstand nicht.«
Kuffel steht auf , öffnet den Schrank , greift nach hinten , zieht eine Flasche Wein heraus , dazu einen Karton Traubensaft , lächelt unsicher: »Was Italienisches , Chianti . Soll gut sein , sagt van Dülmen.«
»Ich hab’ überhaupt keine Ahnung davon.«
»Wollen wir ihn versuchen?«
»Und was hast du mit dem Saft vor?«
»Falls Bruder Walter kommt.«
Carl schließt die Augen , um sich auf die Musik zu konzentrieren. Sie verwandelt sich in graugrüne Linienfolgen unterschiedlicher Schattierung vor schwarzem Grund. Manchmal vollführen seine Hände , sein Nacken ruckartige Bewegungen , ohne daß er es verhindern kann. Er hört jetzt das Brummen , Knurren , Stampfen , über das Guntram sich aufregt , sobald der Name Glenn Gould fällt. Jede Variation ist grundlegend anders als die vorherige. Alle handeln auf eine Art , für die es nirgends eine Entsprechung gibt , von Klarheit und Härte. Ein Gefühl wie beim Blick ins nächtliche All , wenn man nicht furchtsam oder verzagt ist.
Im Hintergrund grummelt Kuffel. Das »Plopp« des Korkens , gefolgt vom Gluckern des Weins. Carl fährt hoch , weil sich etwas Fremdes – Kuffels Hand – auf seinen Arm gelegt hat.
»Ich hoffe , er schmeckt dir« , sagt er. »Ich habe ihn noch nicht probiert.«
Kuffel stellt das Glas neben den geöffneten Traubensaft vor Carl hin , setzt sich wieder , diesmal nicht auf den Schreibtischstuhl , sondern aufs Bett , rückt ein Stück näher , um mit Carl anzustoßen.
»Zum Wohl.«
Carl schüttelt sich. Er hat bislang nur auf Familienfesten süßen Mosel-Riesling getrunken. Der Wein hinterläßt ein pelziges Gefühl im Mund.
»Kenner bevorzugen herbe Weine« , sagt Kuffel.
»Wahrscheinlich muß man sich daran gewöhnen.«
»Willst du lieber ein Bier?«
»Schlecht ist es nicht.«
Kuffel runzelt die Stirn , hält sein Glas gegen das Licht , es leuchtet tiefrot , schwer von Geheimnissen. Er ist in einer sonderbaren Stimmung: scheu , verwundbar , trinkt , seufzt. Carl tut so , als bemerkte er nichts , versucht den Variationen zu folgen , zu verstehen , was Bach oder Glenn Gould sagen wollten. Fragt sich , wie all diese Klanggestalten Platz in einem einzigen Kopf haben und ob er dem Komponisten oder dem Virtuosen gehört. Er spürt Kuffels Blick , wüßte gern , was sich dahinter verbirgt. Oder doch lieber nicht. Fürchtet plötzlich , daß er selbst mit seinem Verhalten Anlaß zu Mißverständnissen gegeben hat und die sonderbaren Zwischenregungen , unausgesprochenen Abmachungen zwischen ihnen jetzt gleich in eine unzumutbare Eindeutigkeit kippen. Überlegt , wie er reagieren würde , wenn Kuffel die Tatsache , daß er beinahe jeden Tag zu ihm zum Tee kommt , vollständig falsch gedeutet hätte und etwas täte , durch das ihre Freundschaft sofort und endgültig zerstört würde.
»War Glenn Gould eigentlich schwul?«
»Carl , also bitte …«
»… kann man doch fragen.«
»Über sein Privatleben weiß ich nichts. Und das ist im Zweifel auch besser.«
»Wieso?«
»Wenn man erfährt , daß so ein genialer Mann eine Vorliebe für übergewichtige Opernsängerinnen oder drogensüchtige Prostituierte hatte , ist einem doch alles vergällt.«
Carl weiß nicht , ob das stimmt oder nicht stimmt , denkt unscharf an dicke und dünne Frauen , folgt einem Lauf , der aus nichts als den Leerstellen zwischen Tönen besteht , denkt , daß es vielleicht nicht um Musik geht , sondern nur darum , die Lautlosigkeit einzufärben , wie auch die Sterne nur dazu da sind , das Unendliche sichtbar zu machen. Er ist so bewegt von seinem eigenen Gedanken , daß er Gänsehaut hat. Diesmal überdehnt Glenn Gould die Pause. Der Faden reißt.
Kuffel geht zur Stereoanlage , dreht die Platte um , steht einen Moment haltlos im Zimmer , starrt aus dem Fenster , während längst neue Tonfolgen einander jagen , Knäuel bilden , in entgegengesetzter Richtung davonstürmen , bis vom dunkelsten Grund der Seele Bachs , Glenn Goulds , seiner eigenen , ein Schmerz aufsteigt , so stark , daß er schreien will angesichts der unermeßlichen Leere zwischen den Gebilden , Formen , Körpern , denn jetzt ist sie wirklich leer. Das Nichts. Statt zu schreien , nimmt er einen Schluck Wein , spült ihn durch den Mund , kippt den Rest in einem Zug hinterher.
»Du trinkst zu schnell« , sagt Kuffel.
»Schmeckt mit jedem Schluck besser.«
Carl spürt , wie sich von innen Wärme ausbreitet , bis in die Finger , die Zehenspitzen dringt , eine
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