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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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Geschmeidigkeit , als würde er selbst sich verflüssigen.
    Kraftvoll und erhaben ist die Musik jetzt. Kein Zögern oder Zweifeln. Eine entschlossene Überlegung folgt der nächsten. Immer neue Aspekte der Melodie werden beleuchtet. Was ist es , das da auf dem Weg über Ohrmuscheln , Gehörgänge , Trommelfelle in sein Hirn , seine Seele dringt , als Film vor dem inneren Auge abläuft? Auf welcher Ebene der Wirklichkeit , des Bewußtseins finden die Bewegungen statt , zu vielschichtig , als daß er ihnen in allem folgen könnte. Wenn er nachhorcht , Überlagerungen – gehören sie der Vergangenheit an oder der Gegenwart? Wessen? Und ganz am Ende ein gewaltiger Schritt durch Raum und Zeit zurück zum Anfang. Erneut die Aria , langsamer als alle Musik , die Carl bisher gehört hat.
    Die Nadel des Plattenspielers nähert sich der Mitte , hebt ab , fährt in die Halterung zurück.
    Carl denkt an den Tod. Wie Glenn Gould gestorben ist. Daß er nie wieder eine Taste anschlagen wird. Soeben hat er die letzte Note eines Lebens gehört.
    Kuffel steht auf , holt die Flasche hinter dem Bett hervor und schenkt Carl nach.
    »Was macht eigentlich deine Freundin?«
    »Gut.«
    »Aber ihr seht euch nicht oft.«
    »Einmal pro Woche. Wenn es klappt.«
    »Und du liebst sie noch immer?«
    »Wieso fragst du?«
    »Persönliches Interesse für dich als Mensch … Freundschaftliche Sorge.«
    »Wenn wir nicht mehr zusammen wären , hättest du es gemerkt.«
    »Aber eure Liebe hat noch keine geschlechtliche Dimension?«
    »Wir schlafen nicht zusammen , wenn du das meinst.«
    »Im Unterschied zu dir weiß Ursula , wie weit sie gehen darf?«
    »Es ist einfach zu kalt draußen.«
    Kuffel nickt wie ein Wackeldackel , faltet die Hände , schiebt sie sich zwischen die Knie.
    »Ich muß etwas mit dir besprechen , Carl.«
    »Wir sprechen doch dauernd.«
    »Es hat eine gewisse Brisanz. Für mich. Ich kann auch nicht ausschließen , daß es in unser beider Verhältnis … Und auch wenn ich das nicht hoffe , kann es sein , daß sich für dich daraus eine grundlegend andere Sicht auf unsere Freundschaft ergibt.«
    »Mir ist nichts Menschliches fremd« , sagt Carl und lacht. Sein Lachen klingt gekünstelt: »Ich verkrafte selbst Holzkamps Tiraden , und das will wirklich was heißen. Ich meine , ich kenne hier niemanden , der sich dessen Gelaber freiwillig öfter als einmal im Jahr aussetzen würde. Aber inzwischen amüsiert er mich manchmal sogar. Obwohl ich meistens das Opfer bin.«
    »Ich weiß sehr wohl , daß es schwer für dich sein muß« , sagt Kuffel. »Vor allem , weil ich dir nur halbherzig oder gar nicht zur Seite springe. Das tut mir nachher oft leid.«
    Carl wundert sich über die plötzliche Zerknirschung.
    »Schön , daß du jetzt siehst , was ich meine.«
    Kuffel starrt über die Kniespitzen auf den Boden , als öffnete sich in dem marmorierten PVC eine Schlangengrube. Carl spürt , daß sich die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen verschieben.
    »Nicht alle Dinge , die uns widerfahren« , sagt Kuffel leise , ohne den Blick vom Boden zu heben , »entsprechen dem , was die göttliche Schöpfungsordnung vorsieht.«
    Carl ahnt , was auf ihn zukommt , weiß weder eine Möglichkeit , es zu verhindern , noch , wie er reagieren wird.
    »Unsere Regungen sind ungeordnet. Sie irren mal in diese , mal in jene Richtung. Entscheidend ist , wie wir mit dem Durcheinander um uns herum und in uns selber umgehen lernen , nicht wahr? Ganz gleich , was geredet wird.«
    Kuffel macht eine Pause , nippt an seinem Glas , schaut ins Bücherregal. Es scheint , als würde aus dem Himmel eine Tonnenlast auf seine Schultern herabgesenkt.
    »Platon entwickelt im Symposion die Idee des Kugelmenschen. Kennst du das Symposion ?«
    Carl schüttelt den Kopf.
    »Im Symposion geht es um die Macht des Eros. Der Eros wird sozusagen von verschiedenen Seiten eingekreist. Hast du eine Idee , was es in diesem Zusammenhang mit dem › Kugelmenschen ‹ auf sich haben könnte?«
    »Vage.«
    »Das ist natürlich heidnische Mythologie , und wir tun gut daran , sie nicht mit der Wahrheit zu verwechseln. Gleichwohl kommt darin doch etwas zum Ausdruck , man könnte sagen , die Geschichte bietet uns die Illusion eines Auswegs aus einem eigentlich unlösbaren moralischen Dilemma , dessen Ursachen in den Bereich der dunklen Geheimnisse gehören , die der Schöpfung eingeschrieben sind , um unsere Standhaftigkeit im Glauben auf die Probe zu stellen …«
    »Ich dachte , der Mythos wäre etwas

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