Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Minderwertiges , das durch den Logos überwunden wurde.«
    »Das stimmt auch. Nichtsdestoweniger bietet das Bild vom Kugelmenschen , wenn schon keine Erklärung , so doch … Platon hatte eine sehr tiefe Kenntnis der Dinge , wenn man bedenkt , daß seine Philosophie nicht auf den geoffenbarten Logos zurückgreifen konnte , sondern lediglich auf der natürlichen Gottförmigkeit des Menschen fußt … In diesem Fall ist es nicht Sokrates , der die Geschichte vorträgt , sondern Aristophanes. Insofern ist das Ganze eher Literatur als Philosophie und läßt zu wünschen übrig , was die Schlüssigkeit anlangt. Später kommt dann Sokrates selbst zu Wort und führt in der berühmten Diotima -Rede aus , zu welchen geistigen Höhenflügen uns die dämonische Macht des Eros führen kann , wenn wir sie von der Anhaftung an das vordergründig Sinnliche lösen. Gleichwohl bietet die symbolische Beschreibung des Aristophanes einen Ansatz …«
    »Vielleicht könntest du mir doch erst mal sagen oder von mir aus auch vorlesen , worum es eigentlich geht. So verstehe ich nämlich nichts.«
    »Entschuldige bitte. Ich versuche drei Dinge gleichzeitig. Also noch mal von vorn: Im Ursprung , so erzählt es der Mythos , waren die Menschen nicht in zwei , sondern in drei Geschlechter unterteilt. Männer , Frauen und ein Zwittergeschlecht , das sich aus beiden zusammensetzte. Diese Kugelmenschen hatten jeweils zwei Gesichter , doppelte Fortpflanzungsorgane , vier Arme und vier Beine. Auf ihre Weise waren sie vollkommen. Eines Tages aber wurden sie von Hochmut befallen. Sie beschlossen die Götter anzugreifen und den Himmel zu erobern. Als die Götter davon erfuhren , berieten sie sich , was zu tun sei , denn sie sahen , daß ihnen die Menschen ernsthaft gefährlich wurden. Sie konnten sich aber nicht dazu entschließen , uns vollständig auszumerzen , denn dann wäre niemand mehr da gewesen , der ihnen gehuldigt und Opfer gebracht hätte. Du siehst , die griechischen Götter sind eher primitiv in ihren Bedürfnissen … Jedenfalls schlug Zeus schließlich vor , den Menschen einen Teil ihrer Kraft zu nehmen , indem man sie halbierte. Und so geschah es. Alle Menschen wurden in zwei Stücke gerissen. Ohne Ausnahme. Seither irren wir mit dem bohrenden Schmerz unserer Unvollständigkeit durch die Welt , immer auf der Suche nach der anderen Hälfte , die im Ursprung zu uns gehört hat …«
    »Das ist doch eine schöne Geschichte.«
    »In gewisser Weise kann man darin eine Komplementär-Analogie zur biblischen Erschaffung Evas aus der Rippe Adams sehen , was dann eben im ehelichen und sie werden ein Fleisch sein zum Ausdruck kommt beziehungsweise im Gebot Jesu: Was Gott verbunden hat , soll der Mensch nicht trennen .«
    »Verstehe ich nicht , rein logisch , ist aber egal , erzähl weiter.«
    »Die Menschen suchen , nachdem sie von den Göttern auseinandergerissen wurden , zeitlebens den Teil , der ihnen ursprünglich angehört hat , um sich mit ihm zu vereinigen und wenigstens für die Dauer des Liebesaktes den Schmerz der Trennung zu vergessen.«
    »So ist das wohl.«
    »Das heißt , die , die im Ursprung aus Mann und Frau zusammengesetzt waren , suchen nach ihrer zweiten Hälfte , so , wie es das natürliche Sittengesetz vorsieht … Dann gibt es aber eben auch die vormaligen Frau-Frauen und die Mann-Männer. Der entscheidende Unterschied zur Offenbarung der Schrift , wie sie von der Kirche bewahrt wird , besteht darin , daß die alten Griechen keine moralischen Grenzziehungen hinsichtlich der Art und Weise vorgenommen haben , welche Formen die Liebe annehmen darf. Insofern …«
    Kuffel sinkt in sich zusammen , holt Luft , schüttelt den Kopf , nimmt einen Schluck Wein. Schaut Carl in die Augen , sagt: »Weißt du , Carl , unsere Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Auf eine gewisse Weise hat sie mich aus der Selbstverkrümmung herausgerissen , zu der die Gottsuche und das Verlangen nach der einen Wahrheit verkommen können , wenn man die Menschen um sich herum darüber aus dem Blick verliert. Seit wir diesen Weg gemeinsam gehen , hat sich für mich eine neue Dimension aufgetan. Es ist bei weitem nicht nur so , daß … Natürlich habe ich mehr an Büchern gelesen als du , und ich habe mich , einfach aufgrund der Tatsache , daß ich älter bin , mit bestimmten Problemstellungen systematischer auseinandergesetzt , gleichwohl führt dein hartnäckiges Nachfragen dazu , daß ich manches , was mir längst selbstverständlich schien , noch einmal