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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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sämtliche Zähne ausschlagen , du widerliche Maso-Schwuchtel , wenn du mir den Namen nicht sagst!«
    Hält ihm die geballte Faust unter die Nase.
    »Dann schmeißen sie dich … Da sorge ich für. Ich hab’ genug Beweise.«
    Carl spürt , wie ein anderer Reflex durch ihn hindurchfährt , ohne daß er es geplant hätte , trifft seine flache Hand klatschend Joschrupps Wange , so fest , daß die Innenfläche brennt.
    »Gar nichts werd’ ich dir sagen« , krächzt es unter ihm.
    Greift Joschrupp ans Ohr , zieht. Joschrupp stöhnt vor Schmerz , versucht , ihn mit seinem Knie im Rücken zu treffen. Carl spürt , daß er ihm das Ohr abreißt , wenn er noch einen Millimeter weiterzieht.
    Plötzlich wird die Orgel lauter , gefolgt von Stimmen. Die Komplet ist zu Ende. Schritte nähern sich. Er hat nur noch wenige Sekunden , um das hier auf eine Weise zu Ende zu bringen , die verhindert , daß Joschrupp morgen , übermorgen , die kommenden Wochen Lügen über Kuffel und ihn verbreitet. Zieht ihm mit dem Handrücken einen Schlag über die andere Wange , nicht ganz so hart wie beim ersten Mal.
    »Aufstehen: sofort aufstehen« , schnauzt Bruder Walter , zerrt ihn am Oberarm hoch. »In fünf Minuten habt ihr auf euren Zimmern zu sein.«
    »Meine Brille« , sagt Joschrupp. »Ich brauche Licht , weil meine Brille kaputt ist , und ohne meine Brille kann ich nichts sehen.«
    »Dann mußt du die Brille demnächst absetzen , bevor du dich prügelst.«
    »Ich wollte …«
    »Fünf Minuten: Wen ich dann noch woanders als auf seinem Zimmer antreffe , der macht Strafdienst morgen.«

Zwanzig
    »Weißt du« , sagt Kuffel und setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch , »Bach war zwar nominell Protestant , wir müssen aber davon ausgehen , daß er in seinem Innern doch dem wahren Glauben gefolgt ist , anders läßt sich die geistliche Kraft seiner Musik nicht erklären.«
    Carl nickt.
    Der Pianist Glenn Gould spielt die Aria der Goldberg-Variationen so langsam , daß jede Note für sich steht , doch der Raum dazwischen ist gefüllt , ganz gleich wie weit man ihn dehnt.
    Carl nimmt sich Kartoffelchips , schiebt sie in den Mund , merkt , daß es ein Fehler war. Ihr Bersten verursacht einen solchen Lärm auf der Innenseite des Ohrs , daß die Melodie zerfällt.
    Kuffel ist eigens nach Forch gefahren , um Goulds Neueinspielung zu kaufen , nachdem Erdmann Stöckes sie im Unterricht ein intellektualistisches Konzeptalbum genannt hat , das sowohl pianistisch als auch interpretatorisch weit hinter der Aufnahme von 1955 zurückbleibe.
    Carl versucht die Chips in den Wangen anzufeuchten , sie vorsichtig mit der Zunge zu zerdrücken.
    »Solche Musik kann man nicht schreiben ohne Inspiration. Und daß der Geist einem Protestanten in dieser Weise ein Leben lang zur Seite steht , würde ich doch bezweifeln.«
    Für einen Moment Lautlosigkeit. Carl hört auf zu atmen , vermeidet jede Kieferbewegung. Mitten in die Stille schlägt Glenn Gould die erste Variation an.
    Aus der einfachen Melodie entwickeln sich immer ausuferndere Formen.
    Kuffel lacht ein kurzes , verächtliches Lachen. Die Verachtung gilt Stöckes.
    »Und du meinst wirklich , daß es keine inspirierten Kunstwerke von Protestanten gibt? – Rembrandt zum Beispiel war auch Protestant. Sein Emmaus -Bild oder Der verlorene Sohn sind schon sehr bewegend.«
    »Rembrandt hat sich in erster Linie für rosige holländische Mädchen interessiert. Aber da liegt ihr ja auf einer Wellenlänge.«
    Carl verdreht die Augen , nimmt die Plattenhülle vom Tisch , schaut das Photo an: Glenn Gould , der seinen Kopf gegen die rechte Hand lehnt. Kleider und Sessellehne bilden einen schwarzen Block. Was ist das für ein Mensch , der auf diese Weise Klavier spielt? Die Haut bleich , fleckig , schütteres Haar. Carl versucht Augen , Lippen , Stirn etwas zu entnehmen , das Rückschlüsse auf sein Wesen zuläßt. Was ist die Bedeutung eines Gesichtsausdrucks? Glenn Gould blickt in die Kamera , wie Carl sich manchmal im Spiegel anschaut: »Völlig kaputt.«
    »Kein Wunder , daß er gestorben ist.«
    »Neulich erst , oder?«
    »Vor zwei Monaten. Mit gerade mal fünfzig …«
    »Wenn es gereicht hat.«
    »Die Frage ist: zu was?«
    »Ich finde jedenfalls nicht , daß stimmt , was Stöckes sagt.«
    »Stöckes ist ein Schwachkopf , den nur Oberflächenreize und Gefühlsduselei interessieren. Daß Bachs Musik aus mehr als virtuosen Effekten besteht und ihre Interpretation etwas mit gedanklicher Durchdringung zu tun hat ,

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