Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
weiteressen und versuchen , einen Kontakt herzustellen. Was selten klappt , wenn man nicht über Beziehungen verfügt. Es gibt eine Gruppe von Älteren , die eng mit den Mädchen sind. Angeblich kennen sie sogar die Telephonnummer vom Wohnheimflur , so daß sie sich mit ihnen außerhalb der Essenszeiten verabreden können. Dann treffen sie sich im Wald , vielleicht auch jenseits der Grenze in Holland. Es sei denn , die Obernonne Pankratia nimmt ab. Es heißt , daß sie auch in der Lage ist , von einem Nebenapparat aus Gespräche abzuhören , so daß es nicht ungefährlich ist , dort anzurufen , vor allem nicht für die Mädchen. Es mußten schon welche vom einen auf den anderen Tag die Ausbildung beenden , weil jemand Beweise für unzulässige Verbindungen entdeckt hatte. Derartige Konsequenzen stehen in den Verträgen , die sie unterschreiben müssen. Es hat mit der Morallehre der Kirche zu tun. Carl bezweifelt aber , daß Asse sich tatsächlich für eine von ihnen interessiert. Das wäre ihm aufgefallen. Asse spielt nachmittags Fußball , und abends , wenn er vollgefressen ist , hängt er vor dem Fernseher , schaut Drei Engel für Charlie oder Die Profis , trinkt ein paar Flaschen Bier , bis er die nötige Bettschwere hat , um schlafen zu können. Spaziergänge macht er nie. –
Die Obernonne Pankratia , die aus einem nicht erkennbaren Grund zornig wirkt , schickt zwei der Mädchen mit ausgestrecktem Arm und spitzem Zeigefinger Richtung Herrenzimmer. Offenbar haben sie einen schweren Fehler gemacht. Es gab eine Beschwerde von Krantz. Oder von dem sabbernden , auf Latein keifenden Pensionär Dr. Pottschaff , der die Frau an sich für eine Ausgeburt der Hölle hält.
Schmider kommt aus dem Aventin-Saal geschlurft , bleibt vor Carl stehen , öffnet den Mund , schiebt den Unterkiefer hin und her , als wollte er jemanden zermalmen , sagt: »Pacher , ich hab’ gehört , bei dir gäb’s Tomatensuppe zu schnorren.«
»Das ist ein Gerücht.«
»Und?«
»Es stimmt nicht.«
Er läßt auch Schmider vor.
Die Schlange bewegt sich jetzt zügiger. Er kann bis zur Nachschlagausgabe von Haus Oktogon auf der gegenüberliegenden Seite der Küche schauen. Dort teilen zwei unsäglich dicke Küchenmädchen aus. Wenn es eine Rangliste der Häßlichkeit gäbe , lägen sie weit vorn: Eine hat Haare so fettig wie Reibekuchen , die andere trägt Glasbausteine statt Brille und ähnelt diesen Himmelsgucker genannten Goldfisch-Qualzüchtungen aus China.
Carl kann noch immer nicht erkennen , welche Mädchen auf seiner Seite an den Schüsseln stehen. Von den zwanzig oder fünfundzwanzig , die da sind , gefällt ihm nur diese eine. Er weiß nicht einmal , wie sie heißt , was ungünstig ist. Trotzdem reicht die Möglichkeit , sie zu sehen , als Grund , für das Nachholrecht Prügel zu riskieren , auch wenn er keinen Hunger hat , und obwohl ihm klar ist , daß er seine Hoffnungen begraben kann , ohne sich überhaupt welche gemacht zu haben. Sie ist siebzehn oder achtzehn , er vierzehn. Kein Mädchen dieses Alters gibt sich mit jemandem ab , der drei oder vier Jahre jünger ist , da kann er noch so viel Wissen über die Welt und das Leben haben und längst den maßlosen Schmerz kennen , den dieses Wissen nach sich zieht. Im Grunde ist er ein Mann. Wenn sie mit ihm reden würde , wäre ihr das sofort klar. Er rasiert sich schon manchmal. Aber wie und vor allem wo sollte sich je die Möglichkeit ergeben , in Ruhe mit ihr zu reden? Es ist nicht nur nicht vorgesehen , sondern so gut wie verboten. Jeder Versuch , ihr eine Nachricht durch einen Kurier zu übermitteln , würde öffentlich werden und ihn zur Witzfigur machen , so notgeil , daß er zu dick und doof auch noch häßlich nimmt. Abgesehen davon , daß es aussichtslos ist. Sie müßte überhaupt erst einmal eine Vorstellung von ihm haben , ihrerseits seinen Namen kennen , ein Gesicht damit verbinden. Das aber ließe sich nur erreichen , wenn er sie irgendwo träfe. So beißt sich die Katze in den Schwanz. Sollte es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit eines Tages doch gelingen , einen Faden aufzunehmen , muß er ihn über Wochen halten und jedesmal , wenn er sie sieht , ein paar beiläufige Sätze hinwerfen , als wären die ständigen Begegnungen , die er plant wie einen Gefängnisausbruch , reiner Zufall. Er hat keine Ahnung , wie man das organisiert. Er weiß nicht einmal , nach welchem Prinzip die Mädchen eingeteilt werden , ob es einen bestimmten Turnus gibt , ähnlich der
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