Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
beschriftet das Kuvert , zieht die Jacke an , steckt ihn ein , stürzt aus dem Zimmer , läuft durch die Flure , springt die Treppen hinunter , rennt durch den Kreuzgang , über den Platz , die Brücke , am Steingregor vorbei Richtung Grenze , zum Zollhaus. Dort befindet sich der nächste Briefkasten , der nicht von Frau Meißner oder der Sötering geleert wird.
Vorbei.
Neunundzwanzig
Schreie und Lachen hallen durch den gefliesten Raum , dessen einziger Schmuck ein Mosaik mit stilisiertem Meeresgetier an der Stirnseite ist. Körper klatschen auf Wasser. Rechts eine Wand Glasbausteine , dahinter Wiesen , Bäume , Himmel und Kühe , zu einem zähflüssigen Ornament verquirlt.
Kuffel steht am Beckenrand , gebeugt wie ein Greis , den Kugelbauch vorgeschoben , in einer lächerlich weiten grün-weiß-schwarz karierten Badehose , die an einen Pyjama erinnert , fuchtelt und schimpft , weil der dicke Pörtner unmittelbar vor ihm eine Arschbombe gemacht hat.
Es ist das erste Mal , daß Carl Kuffel so sieht: Sein Oberkörper ist dicht behaart , selbst auf Schultern und Nieren.
Der Orthopäde , zu dem seine Mutter ihn in den Ferien geschleppt hat , war der Meinung , daß er schwimmen gehen muß. Sein krummer Rücken ist nicht einfach eine Marotte , sondern ein Haltungsschaden , teilweise erblich bedingt , aber auch selbst verschuldet durch jahrelange Bewegungsverweigerung. Wenn er jetzt nichts dagegen unternimmt , wird er mit dreißig unter ständigen Schmerzen leiden , gefolgt von Lähmungserscheinungen , Operationen , Rollstuhl.
Diese Aussichten haben ihm Angst gemacht , auch wenn er es nicht zugibt.
Kuffel legt sein Handtuch auf eine der Bänke , geht zu den Startblöcken , setzt seine Schwimmbrille auf , holt weit mit den Armen aus , springt kopfüber ins Wasser , taucht am anderen Ende des Beckens wieder auf , gibt grunzende Laute von sich , die eine Mischung aus Lust und Abscheu ausdrücken.
»Sieht gar nicht so aus , als ob du schlecht schwimmen würdest« , ruft Carl.
»Wer hat das behauptet?«
»Ich dachte , weil du freiwillig nie gegangen bist …«
Kuffel taucht wieder ab , schwimmt eine ganze Bahn unten am Grund.
Kreischen , das Gurgeln des abfließenden Wassers. Zwanzig oder dreißig halbnackte Jungenkörper. Ringkämpfe. Krüger , Grossmann und Wilbert versuchen sich gegenseitig einen triefenden Schaumstoffball ins Gesicht zu werfen. Pörtner schwabbelt am Rand entlang , fast so ungelenk wie Joschrupp.
Carl überlegt , ob er aussteigen , Anlauf nehmen und einen Salto ins Becken machen soll. Einfach aus Spaß , weil er es kann. Zögert. Womöglich denkt Kuffel , er will sich ihm als Supersportler präsentieren. Kuffel verachtet Leute , die sich ernsthaft mit Sport befassen , obwohl er andererseits den trainierten männlichen Körper für die vollkommenste Schöpfung Gottes hält.
Carl schwimmt zur nächsten Trittleiter , klettert hinaus. Spürt Kuffels Blick , der ihm folgt. Denkt an das eklige Zungenschnalzen , als Holzkamp ihm neulich die Postkarte mit den knackigen Hinterbacken einer berühmten griechischen Hermesfigur unter die Nase gehalten hat. Schiebt den Gedanken fort. Bemüht sich , breitschultrig und muskulös zu wirken , lässig zu gehen , wie jemand , der sich selbst stark und schön findet. Dreht sich überraschend um , schaut Kuffel direkt ins Gesicht. Kuffel sieht blitzschnell weg , kratzt sich im Nacken. Vielleicht errötet er sogar. Er kann sich jedenfalls nicht ernsthaft einbilden , Carl hätte die Stielaugen nicht gesehen , mit denen er ihn angestarrt hat. Unzüchtig. Womöglich die Vorstellung irgendeiner geschlechtlichen Betätigung im Hinterkopf. Er rudert auf der Stelle , blickt konzentriert an die Decke , als würde er innerlich der Bewegung eines nicht unwichtigen Gedankens folgen. Wendet sich wieder Carl zu , winkt ihm , wie eine Oma ihrem Enkel winkt. Carl schüttelt den Kopf , ohne zu wissen , wem es gilt und was er damit ausdrücken will. Steht jetzt hinter den Startblöcken , prüft , ob das Becken frei ist. Eigentlich ist diese Art von Sprüngen aus Sicherheitsgründen verboten. Er tritt zurück bis an die Wand , ruft , »Achtung , Platz da« , beschleunigt in vier , fünf Schritten , springt hoch ab , dreht sich in der Luft , stößt gestreckt ins Wasser.
Der Sprung müßte gut ausgesehen haben.
Nicht immer klappt es , manchmal wird es ein Bauchplatscher oder er landet halb auf dem Rücken. Carl streckt den Kopf aus dem Wasser , schaut sich suchend um.
»Ich wußte
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