Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
soll er ein weinendes Mädchen aushalten , ohne die Möglichkeit , sie zu trösten.
Er steht auf , geht im Zimmer auf und ab , bleibt vor dem Waschbecken stehen , schaut in den Spiegel. Obwohl er sich erst vor drei Tagen rasiert hat , bilden die Bartstoppeln bereits wieder einen erkennbaren Schatten über der Lippe und zu beiden Seiten des Kinns. Der Mensch dort gefällt ihm nicht.
Er dreht sich weg , läßt sich in seinen Sessel fallen , schaut ins Aquarium.
Der Makropode hat mit dem Bau eines neuen Schaumnests begonnen. Nachdem er die ersten beiden Wochen nach den Ferien blaß und schreckhaft gewesen ist , leuchtet er wieder. Offenbar hat er die Strapazen der Umzüge überstanden. Das Weibchen hingegen bereitet Carl nach wie vor Sorgen. Fächelnd und durchscheinend steht sie in der hintersten Ecke beim Filter. Ihre Flanken sind eingefallen. Sobald Carl Futter hineinschüttet , verjagt das Männchen sie mit wüsten Attacken , verhindert , daß sie frißt.
Er geht an den Schreibtisch , legt sich den Briefblock zurecht , den Ulla ihm vergangenes Jahr geschenkt hat: hellgraues Umweltpapier mit einem knorrigen Baum , dessen Äste das gesamte Blatt umranken.
Die Frage , welchen Stift er nehmen soll. Mit dem Kugelschreiber sieht es dünn und nachlässig aus. Die bunten Tintenroller , die er immer benutzt hat , um ihre Briefe mit mehrfarbigen Kommentaren und Unterkommentaren zu versehen , wirken verspielt. Angemessen wäre das Dunkelblau des Füllers , aber es paßt nicht zu dem kindischen Papier.
Er zieht weiße Bögen und das Linienblatt aus der Schublade , klemmt sie hintereinander.
Kahlenbeck , den 23. September 1982
Der Herbst hat begonnen.
Liebe Ulla!
Will er tatsächlich »Liebe Ulla« schreiben? In der Anrede schwingt die Liebe als Gefühl noch immer mit.
Was sonst? – »Hallo , Ulla«?
Sie hat ihre ersten Briefe an ihn , als sie Rasches Freundin war , mit »Hallo , Carl« überschrieben.
Es wäre böse und grausam. Inzwischen weiß sie , wie sehr er dieses »Hallo« haßt. Böse und grausam will er nicht sein , obwohl er annimmt , daß sie ihn betrogen hat oder wie immer man es nennt , wenn jemand einen verläßt , weil er sich mal eben in jemand Neuen verliebt hat , es sich nach einem kurzen Intermezzo wiederum anders überlegt , als wären das alles Kinderspiele.
Kann er sicher sein , daß sie jetzt wirklich auf ihn wartet und sich nicht nebenbei längst einem dritten , vierten oder fünften an den Hals wirft , damit sie auf keinen Fall allein bleiben muß.
Seit drei Tagen liegt Dein letzter Brief jetzt schon hier.
Sie nennt darin verschiedene Möglichkeiten für ein Treffen in Forch oder Kahlenbeck.
Er könnte Ausreden erfinden , weshalb er an allen Terminen verhindert ist: Lateinarbeit , Kunstexkursion , Wandertag , Konzert. Es würde die Entscheidung lediglich verschieben.
Soll er ihr allen Ernstes schreiben , daß er sie nicht sehen möchte? Daß sie sich auch keine Mühe zu geben braucht , Alternativen zu finden? Weil er sie überhaupt nie wieder sehen will?
Jedesmal , wenn ich ihn in die Hand nehme , werde ich traurig und bin zugleich ratlos. Ich stelle mir vor , wie Du in Deinem Zimmer sitzt und ihn schreibst , voller Vorfreude , daß wir uns nächste oder übernächste Woche treffen , die Vergangenheit vergessen und von vorn anfangen.
Gleichzeitig tauchen all die Bilder auf , wie wir zusammengewesen sind. Viele schöne Bilder und einige weniger schöne …
Bald ist es genau ein Jahr her , daß wir zum ersten Mal im Forcher Stadtpark waren.
Er sieht es vor sich , wie sie auf der Bank saßen , dort wo die Arme der Vries sich vereinigen , am Horizont im Nebel die Schwäne als Zeichen , dem er geglaubt hat. Er kann ihr unmöglich schreiben , was er schreiben muß , mit diesem Bild vor Augen und im Gedächtnis seiner Fingerspitzen noch das Gefühl , wie sie sich durch Ullas wirbeligen Haaransatz in den Nacken vorgetastet haben. Ihm stockt der Atem bei dem endgültigen Gedanken , den er denken muß , bevor er ihn schreiben kann , klar und geradeheraus , gegen die aufsteigenden Tränen , mit der Eisenklammer ums Herz. Er greift nach ihrem Brief , riecht daran , obwohl es ein Fehler ist. Ihre Briefe haben immer nach ihr gerochen , so daß er beim Lesen für Momente das Gefühl hatte , sie ist wirklich da und nur kurz ins Nebenzimmer gegangen.
Er weiß nicht , ob sie Parfüm darüber versprüht oder ob sich das Papier einfach mit ihr vollsaugt im Laufe der Zeit , die es in ihrem Zimmer
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