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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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Verführung der Menschen ‹ , hat Präses Roghmann einmal gesagt , › sie kommen alle freiwillig. ‹
    Ganz oben im Schulgebäude , wo sich der Chemiesaal befindet , springen die Neonröhren an.
    Er wirft sich auf den Boden , preßt sich flach auf die Erde , wagt kaum zu atmen , schaut aus den Augenwinkeln hinauf. Eine kleine dickliche Gestalt tritt ans Fenster: Herr Flasswinkel. Er kommt oft mitten in der Nacht , bereitet Versuche vor , überprüft Theorien. Wenn er ihn jetzt sieht und einen Erzieher ruft , ist es vorbei. Dann können seine Eltern ihn morgen abholen. Carl rührt sich nicht , spricht sich vor , daß es unmöglich ist , etwas im Dunkeln zu sehen , solange man selbst im Licht steht. Herr Flasswinkel gestikuliert , verschwindet , kehrt zurück , verschwindet wieder.
    Carl läuft , so schnell er kann , zur Gartenlaube , trotz der Geräusche , die er verursacht. Sie können von einem Reh oder einem Fuchs stammen. Besser gehört als gesehen werden. Das efeubewachsene Gestänge bietet Schutz. Er kauert sich hinter einer Bank in die Ecke , schlottert. Fast fünf Stunden hier draußen in dieser Eiseskälte wird er kaum durchhalten , aber es gibt keinen Weg zurück. Er spürt , wie ihm die Kehle zuschwillt vor Angst , Scham , bitterer Reue über das , was er tun wollte , über den , der er ist. Der Satan hat ihn herausgelockt mit falschen Versprechungen , im sicheren Wissen , daß er tatsächlich so krank ist , zu kommen , willens sein ewiges Heil für ein paar flüchtige Zungenküsse , weiches Fleisch zu verkaufen. Jetzt kann er ihn erfrieren lassen , ihm die Seele nehmen , ohne Gegengabe. Die letzte Absicht , die er auf Erden hatte , war es , diesen Pakt zu schließen , ihn zu unterzeichnen mit dem eigenen Blut , damit er auch wirklich gilt bis zum Jüngsten Tag und darüber hinaus. Er hat sich auf die verwerflichste Weise gegen den Herrn gestellt , und der Herr hat ihn aufgegeben. Aus Respekt vor seiner freien Entscheidung , die den Kindern Adams geschenkt wurde , damit sie den Herrn , ihren Gott , lieben aus ganzem Herzen , mit ganzer Seele und all ihrer Kraft . Er aber hat das Gegenteil für sich gewählt: Auflehnung. Daraus folgen Verzweiflung und Tod. Ihm laufen Tränen die Wangen hinunter. Daß er jetzt hier draußen kauert , ist der unumstößliche Beweis für den Engel , der Buch über ihn führt , daß er sich dem Bösen überantworten wollte – überantwortet hat. Aber es kann doch nicht sein , daß sein Leben heute nacht schon endet , wegen einer lächerlichen Idee , während ringsum fünfhundert Leute in ihren Zimmern sind , die er rufen könnte , daß sie ihn hereinlassen. Nicht sterben , hier draußen in der Kälte , im Morgengrauen des Hochfests Mariä Lichtmeß , unsere Mittlerin , unsere Fürsprecherin , führe uns zu Deinem Sohne , empfiehl uns Deinem Sohne , stelle uns vor Deinem Sohne . Dafür ist es zu spät. Doch selbst ein Verweis wäre besser als der Tod. Er kann noch immer behaupten , daß er sein Portemonnaie verloren oder sich beim Abendspaziergang verlaufen hat.
    Lautloses Schluchzen.
    Plötzlich springt Flasswinkel ans Fenster , reißt es mit einem Ruck auf , streckt den Kopf heraus , läuft zum nächsten , öffnet es ebenfalls , dann das dritte , fächert beidhändig Luft. Offenbar ist bei seinem Experiment etwas schiefgelaufen. Seine Versuche funktionieren häufig nicht. Er ist konfus , oft regelrecht wirr. Manchmal veranstaltet er merkwürdige Dinge , weiß von einem Moment auf den anderen nicht mehr , mit wem er spricht oder was sein Plan war. Vielleicht hat er , als er gekommen ist , vergessen , die Tür zum Schulgebäude abzuschließen , weil er die Vision einer Erkenntnis hatte , die er so schnell wie möglich überprüfen mußte. Selbst wenn er jetzt gleich fertig wäre mit seinem Experiment , blieben noch mindestens fünf Minuten. Carl spürt , daß Kraft in seine Muskeln zurückkehrt. Zumindest für diese Nacht gibt es Hoffnung. Sollte die Tür verschlossen sein , könnte er warten , bis Flasswinkel herauskommt , dann einfach an ihm vorbeigehen , als wäre nichts. Möglicherweise ist Flasswinkel so in Gedanken , daß er sich nicht einmal wundert.
    Er lauert. Pirscht sich aus der Laube zu den Wacholdersträuchern , Stechpalmen , kriecht zwischen den Büschen bis unmittelbar an das Gebäude heran , richtet sich auf , schiebt sich mit dem Rücken an der Wand zur Ecke. Ab hier ist der Weg gepflastert. Er schleicht sich an den Rand des marmornen Platzes , verbleibt im

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