Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Schatten der Laternen , bis er sicher ist , daß niemand kommt oder geht. Rennt zur Eingangstreppe , die Treppe hinauf , wirft sich gegen die Glastür , die Glastür gibt nach. Auch die innere Tür ist offen. Wärme schlägt ihm entgegen – Wärme und ein scharfer Geruch. Ammoniakgas. Seine Schritte hallen nach in dem riesigen leeren Raum. Ammoniakgas ist nicht so tödlich wie Brom. Einmal hat Flasswinkel die Flasche herumgehen lassen , und alle mußten daran riechen. Carl schafft es bis zur Kellertreppe. Dort unten sind die Übungsräume. In einem von ihnen steht eine alte Couch , auf der er schlafen kann. Schlimmstenfalls weckt ihn zwischen sieben und acht eine der Putzfrauen. Denen ist es egal , was die Schüler tun. Keine von ihnen weiß , wie er heißt. Wegen der Messe zum Hochfest Mariä Lichtmeß mit anschließendem Blasius-Segen beginnt der Unterricht erst um halb zehn. Bis dahin kann er sogar noch seine Schulsachen holen.
Fortgenommen werden in eine unvorstellbare Stille. Dorthin , wo kein Gewicht , keine Last ist. Er hört , wie sein Name genannt wird. Die Stimme , die ihn nennt , ist ruhig , beinahe sanft. Widersprechen kann man ihr nicht. Der , dem sie gehört , befindet sich unmittelbar neben oder hinter ihm , ist aber nicht zu sehen wegen des toten Winkels oder weil er zu den Unsichtbaren gehört. Mit leichtem Druck schiebt er ihn aufrecht in einer gleichmäßig langsamen Bewegung vorwärts durch helle Flure mit durchlässigen Wänden. Jenseits der Wände halten sich Wesen auf , die keine Geräusche verursachen noch sonst etwas von sich geben , doch sie sind zweifellos da. Etwas wie die Hand des Begleiters in Gestalt reinen Willens öffnet eine dunkle Holztür. Entläßt ihn dort hinein. Er steht in einem warmen , ockergelben Raum. Weder Fenster noch Bilder. Keinerlei Gegenstände. Die Farbe des Raums entspricht der Seelenfarbe des Menschen , der hier seinen Ort hat. Er scheint alt zu sein , aber nicht sehr alt , sitzt an einem schlichten Tisch auf einem schlichten Stuhl. Ein langer , ebenfalls ockerfarbener Mantel , der aus einem Stück gewebt ist , fällt ihm von den Schultern bis zum Boden. Da er sich abgewandt hat , vertieft in das Studium der Offenbarungen , ist sein Gesicht nicht zu erkennen. Nur daß er einen Bart trägt. Auf eine sehr bestimmte Weise hat er mit Carls Leben zu tun. Carl ist ihm nie zuvor begegnet , erinnert sich aber , daß er seit langem von seiner Existenz weiß. Es muß einer der Heiligen sein , deretwegen Gott die Welt im Dasein hält , trotz der Sünden und des Unglaubens. Ein zweiter Mann kommt von rechts aus einem anderen Raum , in dem man vor reinem Licht nichts erkennt: Präses Roghmann. Er ist tot und nicht tot , während der Heilige zu den lebendigen Lebenden gehört. Der Unterschied ist ebenso eindeutig wie unsichtbar. Die Männer begrüßen einander mit einer Umarmung , stecken die Köpfe zusammen. Es geht um ihn. Carl weiß , daß sein Körper zu diesem Zeitpunkt im Keller des Schulgebäudes auf einem Sofa liegt und daß er nicht träumt. Präses Roghmann richtet sich auf , tritt auf ihn zu. Sieht ihn aus der Undurchdringlichkeit seiner schwarzen Augenschlitze an , die er mit in die Ewigkeit genommen hat. Carl begreift nicht , was der Blick bedeutet , weiß aber , daß alles , was er getan hat , offen daliegt. Er will etwas sagen , eine Erklärung , eine Bitte , ein Bekenntnis all seiner Schuld , doch er hat keine Stimme. Nicht einmal seine Lippen kann er bewegen. Präses Roghmann wartet eine Weile. Da er nichts hört , dreht er sich um und geht hinaus. Es gibt keine Möglichkeit , ihm hinterherzulaufen. Der Heilige wendet sich erneut den Schriften zu und beachtet ihn nicht. Carl sieht unendliche Barmherzigkeit in seinen Zügen und möchte weinen. Auch das gelingt nicht. Aber er ist vorhanden in der Wahrnehmung des Heiligen. Sehr weit entfernt. Mit einem Wischer der linken Hand , als würde er Krümel wegfegen , schickt er ihn fort.
Zweiunddreißig
»Und? Was glaubst du , wie es mit deinem Zögling weitergeht , wenn wir weg sind?«
»Wir fallen ja nicht aus der Welt.«
»Du hast nicht mal den Führerschein , und dein Fahrlehrer war sehr skeptisch , ob du ihn je bekommen wirst.«
»Solange die Herzensverbindung Kraft hat , werden sich Mittel und Wege finden. Oder was meinst du , Carl?«
Er nickt.
»Nach den bisherigen Erfahrungen mit seiner geistigen Festigkeit würde ich eher vermuten , daß es keine drei Monate dauert , bis er alles über Bord wirft , was
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