Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Gehorsam dem Schöpfer gegenüber.«
Ihm verschwimmen Einwände , Antworten , Fragen. Er sieht nicht einmal mehr Holzkamps Gesicht klar: ob er grinst , weil es doch wieder nur darum geht , ihn wie einen Idioten dastehen zu lassen , oder ob er diesen undurchdringlichen Ernst ausstrahlt , den Roghmann oft hatte.
»Du schaust mich an , als hättest du nicht die geringste Ahnung , was wir hier eigentlich verhandeln.«
»Was Winfried dir klarzumachen versucht , Carl , ist: Wenn du nicht weißt , welchen fundamentalen Wandel die Welt infolge des Sündenfalls durchlaufen hat , wirst du aus der Naturbeobachtung Theorien ableiten , die der Wahrheit , Schönheit und Güte der göttlichen Schöpfung widersprechen , verstehst du?«
»Doch. Schon …«
Seine Stimme bricht ab.
»Das ist jetzt auch kein Grund , eine hysterische Krise zu kriegen« , sagt Holzkamp. »Im großen und ganzen bewegen sich unsere Vergehen im Rahmen dessen , was wir in der Beichte voller Zuversicht und Trost dem Herrn übergeben dürfen. Nichtsdestoweniger sollten wir uns gelegentlich klarmachen , daß wir – jeder einzelne von uns als Kind Adams – mit allem , was wir denken und tun , zunächst einmal Mittäter sind und nicht Opfer. «
»Ich weiß.«
»Also überleg dir gut , welche Ausrichtung dein Leben bekommen soll: Nichts ist Lappalie , alles zählt.«
»Jetzt laß ihn doch mal , du siehst doch , daß er angegriffen ist.«
»Ich will deinem Schützling ja gar nichts. Es ging mir lediglich darum , die wenigen Gelegenheiten , die uns noch bleiben , nicht mit Sentimentalitäten zu vergeuden , sondern ihm ein paar gedankliche Impulse für die Zukunft zu geben , damit er , falls er tatsächlich seine Zeit mit der Beobachtung von Fischen oder Ameisen vergeuden will , nicht meint , daraus ließen sich brauchbare Schlüsse im Hinblick auf die geistige Ordnung der Welt ziehen. Im Grunde ist es die liebende Sorge um sein Heil , die mich antreibt. Oder , Carl , hast du den Eindruck , ich wollte dir schlecht?«
Er schüttelt den Kopf.
Die Nässe streut gelbes Licht ins Zimmer. Gesichte , Wispern. Nacht für Nacht Schmerz und Angst. Durch das gekippte Fenster fällt kalte Luft. Ein Frühling ohne Hoffnung , ganz gleich , was passiert. Abschied.
Keiner der Menschen , die ihn kennen , wird erfahren , was er getan oder wenn nicht getan , so doch versucht hat zu tun , und das heißt: Niemand wird ihm je wieder nah sein.
Er hat sich zehn Meter Wäscheleine gekauft. Sie liegen im Bettkasten , dreißig Zentimeter unter seinem Kopf , dringen bis in die Träume , machen es besser , machen es schlimmer. Über ihm ragt der Kehlbalken quer durch den Raum , schwärzer als Schwarz. Zwei feste Knoten , ein Sprung von der Schlafempore ins Zimmer , mehr nicht , dann Stille. Kein Bewußtsein , das sie wahrnimmt. Eine schöne Vorstellung. Sie wird aber nicht eintreten – selbst wenn er den Mut aufbrächte nicht. Der Ausweg ist kein Ausweg , ist nur eine Falle , die äußerste Versuchung , damit er endgültig alles zunichte macht. Wie viele Menschen würden vor Ablauf der festgesetzten Frist aufgeben , wenn sie glauben könnten , daß der Tod wirklich das Ende bedeutet? Sogar die , die behaupten , Atheisten zu sein , benehmen sich so , als ob ihre Seelen unsterblich wären.
Nichts , was war , kann getilgt werden.
Er stellt sich vor , wie es wäre , wenn er den Tag und die Stunde selbst festlegt , eigenmächtig den Schlußstrich zieht: Im nächsten Augenblick , dem ersten außerhalb des Körperkerkers , wird sich ein schwarzes Loch in die Tiefen der unteren Welt auftun. Anders als bei denen , die vom Engel hinaufgeleitet werden , ist es kein Tunnel , an dessen Seitenwänden das Leben wie ein Film im Zeitraffer vorbeizieht , während Licht und Wärme zunehmen , bis am Ende das Angesicht Jesu , seine überströmende Liebe , die befreite Seele empfängt und in die ewige Gemeinschaft der Seligen aufnimmt. Bestenfalls kein Erstickungstod , sondern das Genick bricht schnell. Ein Knacken , die Spannung weicht aus den Gliedmaßen. Diffuse Wärme , die ihm schon nicht mehr gehört , nur kurz. Ein oder zwei Minuten , nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen , fällt die Temperatur. Der Blick auf den ausschwingenden , sich langsam entfernenden Körper. Erinnerung an leises Frösteln , an Kälte , die steif macht , bis seine Wahrnehmung , die jetzt außerhalb ist , sich nicht mehr aufrechthalten kann , taumelt , kippt , sich überschlägt , ungebremst in den Schacht aus Eis
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