Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Sommerferien verbracht , ist hinter dem Präses schmale Pfade zu verlassenen Almen hinaufgestiegen , hat Gletscher gequert , mittlere Gipfel erreicht , einen Viertausender. Normalerweise braucht er sie nicht zu fürchten. Die Nonnen sind über die Schüler nicht weisungsbefugt , sie können sich höchstens bei den Präfekten beschweren , daß jemand sich ihnen gegenüber schlecht benommen oder ein Verbot übertreten hat. Vielleicht will sie ihn auch einfach nur begrüßen , fragen , wie es ihm geht , weil sie ihn für einen netten und frommen Jungen hält. Carl dreht sich um und geht. Es ist ihm egal , was sie denkt.
Auf dem Gang schwankt er leicht , merkt , daß sein Herz rast. Er stützt sich an der Wand ab , um ein Gefühl von sich in diesem Körper zu haben , dessen Muskeln so müde sind , daß sie verschwimmen. Er bleibt vor dem Emmaus-Bild stehen , holt tief Luft , spürt , wie kühl die Wand ist im Vergleich zu seinem Arm , seiner Stirn. Voller Demut und Mitgefühl wendet der Herr seine Augen gen Himmel. Der Junge , der ihm von rechts das Brot reicht , wäre er gern. Dann könnte er Jesus persönlich bitten , um was immer er will , er würde es bekommen und wenn es die Liebe eines Mädchens wäre.
Fünf
Im Vorzimmer des Präses ist das Sprechen nicht verboten , doch Carl hat kein Wort gesagt , seit sie hereingekommen sind. Auch Bart schweigt. Sie vermeiden Blickkontakt. Abwechselnd starrt jeder für sich gegen die Decke oder auf seine Füße oder durch die bräunlichen Bleiverglasungen , hinter denen der Hof vor dem Primanerbau verschwimmt.
Die Stühle sind unbequem.
Normalerweise wird von den Erziehern zum Präses geschickt , wer trotz Strafdienst und Ausgangssperre keine Anordnung beachtet , wer spätabends beim Einsteigen erwischt wird oder eine ganze Nacht draußen geblieben ist. Letztere erhalten einen Verweis. Beim dritten Verweis müssen sie das Gregorianum verlassen. Wenn jemand als Dieb erwischt wurde , unabhängig davon , ob bei Kameraden oder in einem Geschäft , wird er noch am selben Tag hinausgeworfen , ebenso einer , der mit Rauschgift zu tun hat.
Obwohl sie sich nichts dergleichen haben zuschulden kommen lassen , fürchtet Carl sich vor dem , was bevorsteht. Er vermutet , daß auch Bart sich fürchtet , sie haben aber nicht darüber gesprochen.
Alle machen sich über den Präses lustig , äffen seinen Sprachfehler nach , der ihm , weil er immer »G« statt »K« sagt , den Namen »Gümmelgurt« eingebracht hat , doch das ändert nichts an der Tatsache , daß seine Macht zum Fürchten ist , selbst wenn er sie zurückhält.
Carl hat einmal gehört , wie Schwester Adelgundis einem Vater zuflüsterte , als verrate sie ein Geheimnis: »Der Herr Präses ist ein heiligmäßiger Mann .«
Der Vater nickte wissend und sagte: »Wir können uns sehr glücklich schätzen , daß wir ihn bei uns haben.«
Vor zwei Tagen hat das Ekel Winfried Holzkamp im Gespräch mit Bernhard Kuffel , der zum Halbjahr neu in die Obersekunda gekommen ist und das Zimmer Carl gegenüber bewohnt , dieselbe Formulierung gebraucht.
Ein heiligmäßiger Mann ist nicht dasselbe wie eine Heilige im Sinne von Schwester Eugenia.
Carl wurde bislang einmal vom Präses gemaßregelt , noch in der Quinta , als Frau Kressmark ihn nach der Rückkehr von der Mariendorn-Wallfahrt , die alle Kahlenbecker Häuser einmal im Jahr machen , siebzehn Kilometer Fußmarsch , vom Abendessen ausschloß , weil er verspätet in den Speisesaal gekommen war. Er hatte sich erst waschen und vollständig umziehen müssen , nachdem Deggendorf , der damals sein bester Freund war , ihm einen Schuh in den Graben geworfen hatte. Der Schuh war nicht untergegangen , aber Deggendorf hatte durch gezielte Steinwürfe verhindert , daß Carl ihn mit einem Stock wieder herausfischen konnte , so daß ihm schließlich nichts anderes übriggeblieben war , als hineinzuspringen. Kurz darauf hatte die Klingel zum Abendessen geläutet. Carl war triefnaß und stinkend aus der Dreckbrühe gestiegen , und als er zwanzig Minuten später in den Speisesaal trat , war das Essen fast vorbei. Es gab kaum noch Brot , keine Wurst mehr. Schüsseln mit Zitroneneis standen auf den Tischen zur Belohnung für die Strapazen des Pilgerns. Er wollte sich etwas nehmen , doch im selben Moment kreischte Frau Kressmark quer durch den Speisesaal: »Auf keinen Fall! Carl Pacher! Leg den Löffel weg! Soweit kommt es noch!«
Er konnte den eigentlichen Grund für seine Verspätung nicht nennen ,
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