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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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Sitzplatzrotation in den Speisesälen , der er diese Woche den Schrumpfkopf Asse als Tischboß verdankt. Vielleicht werden die Aufgaben der Mädchen aber auch jeden Tag neu bestimmt , und es ist völlig unvorhersehbar , welche morgen , übermorgen , nächsten Mittwoch die Pausenbrotkörbe hinausbringt , an der Spülstraße steht , das Frühstück vorrichtet. Für ihn ist nicht erkennbar , ob eine Ausnahme eine Ausnahme ist oder ob es gar keine Regel gibt. Vergangene Woche hat er sie dreimal bei der Essensausgabe von Haus Oktogon gesehen. Vorher fand er sie auch hübsch , aber mehr theoretisch. Letzten Dienstag hat er plötzlich nicht mehr an einen Nachschlag Wirsing gedacht. Er hat sie angestarrt in der schwachsinnigen Hoffnung , daß sie es merken würde über eine Distanz von gut zwanzig Metern hinweg , während sie alle Hände voll zu tun hatte und ihm ihr Profil zukehrte. Sie hätte sich eigens und nur , weil sie auf geheimnisvolle Weise von seinem Blick berührt worden wäre , umdrehen und in seine Richtung schauen , sich also von dem Schüler , der gerade vor ihr stand und dessen Schüsseln sie füllen sollte , wegdrehen und ihm zuwenden müssen , obwohl er weit entfernt war und sie ihn kein bißchen kannte. Carl sah zu , mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Oktogon-Schnöseln ihre Aufmerksamkeit schenkte , den Kopf schräg zur Seite legte , lachend Bosheiten parierte oder austeilte , sich durchstreckte , zurücklehnte , immer wieder dieselbe Strähne , die aus dem Klämmerchen gerutscht war , hinters Ohr strich. Die Zeit verging zusehends langsamer und irgendwann setzte sie ganz aus , wie auf den Bildern von Degas oder Renoir , wo Mädchen , Frauen am Fluß lagern oder im Bad vor dem Spiegel stehen und etwas Öl aus einem Flakon auf die Fingerkuppen geben. Inmitten der weiß gekachelten , übel riechenden Küchenhalle , die aussieht wie eine zum Schlachthaus umgebaute Klinik , wurde sie vor seinen Augen verwandelt , als stünde die Tür zu dieser anderen Art Leben offen , das es wirklich gibt , nicht nur in Büchern. Es fiel gar kein besonderes Licht von draußen herein , doch sie leuchtete in einem Glanz wie die Heiligen in den Kirchenfenstern zu Hause , Barbara , Katharina , Margareta. Es hatte mit ihrem eigenen inneren Leuchten zu tun. Der Anblick wurde ganz unerträglich vor Schönheit , trotz des weißen Kittels und der Küchenhilfenkappe , unter der ihr ein dicker dunkelbrauner Zopf auf den Rücken fiel. Nach einer Weile löste sie die Spange , flocht den Zopf mit kräftigen Griffen auseinander , so daß ihre Haare in schweren Wellen hinunterstürzten. Er sah all das so klar und deutlich , als würde es tatsächlich geschehen , und er war derjenige , der dabei zuschauen durfte , mehr noch , er war der , für den sie es tat , während er auf dem Sofa lag und auf sie wartete , auf eine vollständig ausgewachsene Frau , warm und weich , in einer bordeauxfarbenen Cordhose , für die sie ein wenig zu üppig ist. Es war das erste Mal , daß er bereit gewesen wäre , in Haus Oktogon zu wohnen , wo sich die Popper und Schwuchteln des Gregorianums eingenistet haben , er hätte sogar Präfekt Wiepers ertragen , diese rosafarbene Reinkarnation eines vietnamesischen Hängebauchschweins , der einem im Unterricht mit seinen fetten , klebrigen Fingern den Nacken knetet , während man Fragen über das Verhältnis der synoptischen Evangelien zur Loggienquelle Q beantworten muß. Carl hätte das auf sich genommen , nur um das Recht zu erwerben , drei- oder fünfmal bei ihr irgendeinen Fraß nachzuholen. Dann maulte das Mädchen , das klein und pickelzerfressen unmittelbar vor ihm stand , den Wirsing schon in der Kelle: › Willst du jetzt was , oder glotzt du bloß – dann verstopf nicht den Weg! ‹ –
    Mit einem Mal kehren sie jetzt schneller zurück. Rösner schimpft. Zwei Quartaner schlagen ihre Löffel aufs Blech. Bart bleibt kurz stehen , sagt: »Alles alle.«
    Carl zuckt mit den Achseln: »Schmeckt eh zum Kotzen.«
    »Gehst du Pommes essen?«
    »Ich hab noch Tütensuppen und Toast.«
    »Was für welche?«
    »Tomate und Champignon.«
    »Auch für zwei?«
    »Schätze schon.«
    Er läuft trotzdem zum Tresen vor , stellt fest , daß sie tatsächlich bis vor wenigen Augenblicken hier gestanden hat. Jetzt geht sie davon. Zu spät , zu spät , zu spät: Er ist zu spät. – Zumindest ein vorsichtiger Blick wäre möglich gewesen , vor weniger als einer Minute noch. Vielleicht hätte sie sich sein Gesicht gleich

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