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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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ohne Deggendorf zu verraten , also sagte er: »Entschuldigung , daß ich zu spät bin.«
    Frau Kressmark interessierte sich aber sowieso nicht für Gründe. »Raus. Ich will dich hier heute nicht mehr sehen!«
    Da die Bestrafung ungerecht war und Carl vor Hunger Magenschmerzen hatte , beschloß er eine neue Form des Widerstands. Er setzte sich als Bettler auf den Flur vor die Schlafsäle und bat jeden , der vorbeikam , um etwas Eßbares. Auf diese Weise erhielt er einen Rest Zitronenkuchen , eine Handvoll Kartoffelchips und ein Päckchen Fruchtgummis , aber es war nichts dabei , was wirklich sättigte.
    Als Frau Kressmark ihn um acht anwies , unverzüglich ins Bett zu gehen , sagte er: »Nach einem solchen Tag ohne Essen schlafen zu müssen , ist unmenschlich. So etwas gibt es nur in russischen Straflagern.«
    »Sofort gehst du jetzt!«
    »Ich bleibe hier. Notfalls bis morgen früh. Das ist ein Hungerstreik.«
    Ihm zitterten die Knie , zugleich war da ein unbekanntes Hochgefühl. So etwa mußte es sein , wenn man sich entschieden hatte , für die Wahrheit sein Leben zu opfern.
    Frau Kressmark zwang sich , ruhig zu bleiben , was sonst nicht ihre Art war: »Das wird Folgen haben« , zischte sie , »und nicht zu knapp! Ich rufe den Präses an. Der Präses soll das klären!«
    Sie vollführte eine scharfe Drehung und stampfte mit knallenden Absätzen in ihr Zimmer.
    Damit hatte Carl nicht gerechnet.
    Zehn Minuten später sah er den Präses vom Schulhof her die Grabenbrücke überqueren , die das Juvenatsgelände von den Hauptgebäuden trennt. Er fürchtete sich nicht beziehungsweise versuchte seine Furcht in Schach zu halten , indem er sich vorsprach , »der Präses ist streng , aber gerecht , streng , aber gerecht , streng , gerecht , gerecht , gerecht.«
    Sein Hunger schlug in Übelkeit um.
    Obwohl Carl gesehen hatte , wie der Präses ins Haus trat , stand er dann überraschend vor ihm , eine schmale , scharfkantige Gestalt , bis in die Finger gespannt.
    »Was ist hier los , Carl?«
    Im Lauf der Jahrzehnte hatten sich seine Augenlider abgesenkt , so daß nur zwei schmale schwarze Dreiecke geöffnet waren , denen sich keine Regung entnehmen ließ: »Fängst du jetzt auch an , aufsässig zu werden?«
    Carl entnahm der Stimme , daß jede Antwort sinnlos war , trotzdem begann er: »Nach der Wallfahrt haben wir …«
    »Ich will nichts hören. Du hast versucht , deine Kameraden zu einer Revolte anzustacheln. Es war sogar die Rede von Streik .«
    Carl setzte noch einmal an: »Das hat damit zu tun , daß …«
    Er fürchtete , daß er seinen besten Freund Deggendorf jetzt doch verraten mußte , aber dazu kam es nicht mehr. Der Präses wurde dunkelrot. Es gab diesen Moment der Totenstille wie vor Erdbeben oder Vulkanausbrüchen , dann: »Ich werde nicht zulassen , daß sich im Gregorianum kommunistische Machenschaften breitmachen. Revoluzzer haben hier nichts zu suchen. Wo diese Verhaltensweisen hinführen , kann man jeden Tag in der Zeitung lesen: Es beginnt mit Sitzblockaden , dann werden Steine geworfen , am Schluß steht der Mord an unschuldigen Menschen mit Bomben und Maschinenpistolen. Alles , was in diese Richtung zielt , wird von mir persönlich mitsamt den geistigen Wurzeln herausgerissen werden.«
    Die Eruption dauerte nicht lange , vielleicht eine Minute , und endete mit: »Wenn Frau Kressmark etwas anordnet , hast du , ohne Wenn und Aber , zu folgen. Ab jetzt!«
    Frau Kressmark hatte er um der Gerechtigkeit willen ins Angesicht widerstanden. Diese Möglichkeit gab es jetzt nicht. Carl schwankte in den Waschraum. Seine Vernichtung war vollständig. Ihm liefen die Tränen. Er nahm an , der Präses würde noch in der Nacht seine Eltern anrufen , ihnen erklären , daß sie ihren Sohn , der sich Kommunismus und Terrorismus zugewandt hatte , abholen könnten. Er weinte bis in den Schlaf.
    Bereits am nächsten Morgen im Religionsunterricht war der Präses freundlich wie immer. –
    Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Der Vorfall wurde nie wieder erwähnt.
    Carl steht auf , tritt an den niedrigen Vitrinentisch in der Mitte des Vorraums. Darin befindet sich ein Modell des Collegium Gregorianum Kahlenbeck im Maßstab eins zu fünfhundert. Der Turm mit der Sternwarte am östlichen Ende von Haus Aventin ist umgekippt.
    Carl weiß nicht , weshalb er hierhergeschickt worden ist , aber er wünscht , es wäre schon vorbei. Bart und er haben lediglich im Schlafanzug nachts um elf in Barts Zimmer vor dem Bett gesessen und sich

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