Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
euch.«
»Und mit deinem Geiste.«
Auch Carl hat die Einweihungsandacht schwänzen wollen , wegen der Sonne draußen , des wolkenlosen Himmels , der so viel blauer ist als in Henneward. Nach der verregneten Ferienwoche zu Hause , wo er keinen Schritt vor die Tür tun konnte , ohne an Regina erinnert zu werden , wollte er sich ins Gras legen oder oben auf der Rampe vor dem Heuschober sitzen und zum Gipfel des Ehmarnhorns hinaufschauen. Mit schlechtem Gewissen , weil er sich nicht um seine Verpflichtung Gott gegenüber geschert hätte. Dann kamen im Schlepptau der Nonnen die Mädchen , und er ist ihnen nachgegangen. Auch das mit schlechtem Gewissen , denn sein Antrieb war im Kern falsch.
»Lasset uns beten: Herr , unser Gott , Du errichtest Dir aus der wohlgefügten Gemeinschaft der Heiligen eine ewige Wohnstatt. Gib diesem Deinem bescheidenen Haus himmlisches Gedeihen und laß uns immerfort Deine Hilfe empfangen durch die Verdienste der Heiligen – insbesondere des heiligen Papstes Gregor – , dessen Reliquie wir nach frommer Sitte in diesem Altar verwahren: durch Christus unsern Herrn. Amen.«
Vorne links steht Präfekt Lohfing wie ein einfacher Gläubiger , obwohl auch er Priester ist , rechts von ihm , mit anderthalb Metern Abstand Schwester Adelgundis und die Obernonne Pankratia , daneben Andrea und Ursula-Ulla , die ihre Hände der kleinen Schwester auf die Schultern gelegt hat. Wenn er den Kopf nach rechts dreht , sieht er sie im Halbprofil. So nah wie jetzt war er ihr noch nie. Sie könnte seinen Blick erwidern. Anders als in der Kahlenbecker Küche bestünde kein Zweifel , daß er gemeint wäre.
Er fragt sich , ob sie freiwillig zur Andacht gekommen – ob sie fromm ist.
Vermutlich hatte sie keine Wahl , wie auch er nie eine Wahl hatte , wenn er mit Tante Ria unterwegs war.
Manchmal ist es besser , keine Wahl zu haben.
So unmittelbar vor den Augen des Präses kann er sie unmöglich anstarren. Er versucht sich zu konzentrieren , eine Nachricht zu formen , in einer Gestalt , die nicht aus Wörtern besteht , sie ihr mit Hilfe seines Willens durch den Raum zu schicken. Aber die Bündelung des Willens ist schwierig. Er hat Zweifel , daß es ihm gelingt , genug Kraft zu sammeln. Sie muß im Innersten des Herzens zusammengezogen werden. Vielleicht funktioniert es , indem er die Luft anhält , das Gedankengebilde mit Hilfe eines bestimmten Drucks nach links schiebt. Jetzt müßte er die Kraft dort festhalten und weiter anwachsen lassen. Allerdings kann man in der Kapelle kaum atmen wegen des Weihrauchs , erst recht kann man keine Atempausen oder Versuche zur Gedankenübertragung machen. Bart wäre längst umgekippt.
»Wenn wir heute , nach einem arbeitsreichen Jahr , wieder hier am Fuß der Berge stehen , um die Zeit der Erholung zu beginnen , fragen sich manche , wo die letzten zwölf Monate geblieben sind. Anderen kommt es vor , als wären sie gar nicht fort gewesen. Gemeinsam aber ist uns allen , den Neulingen wie den alten Hasen , daß wir uns beim Blick hinauf zum schneebedeckten Gipfel des Ehmarnhorns wieder neu bewußt werden , wie ungeheuer klein wir tatsächlich sind angesichts der Majestät von Gottes Schöpfung.«
Lichtstreifen fallen durch die Ritzen zwischen den oberen Balken. Die Sonne ist aus dem Schatten der alten Fichten vor der Gregoriushütte getreten , bringt die Weihrauchschwaden zum Leuchten. Ein armdicker Strahl trifft genau in die Mitte der schwarzen Granitplatte , unter der die Reliquie des heiligen Gregor ruht. Der Präses zeigt keine Reaktion angesichts der Erscheinung , er bemerkt sie überhaupt nicht.
»Sobald wir die maßlose Selbstüberschätzung ablegen , die gleichermaßen Sünde und Krankheit unserer Zeit ist , stellt sich in unserem Innern das Gefühl der Ehrfurcht wieder ein , das den Menschen früherer Epochen selbstverständlich war: Ehrfurcht vor der Größe und Erhabenheit des göttlichen Werks , dessen Ordnung und Plan unseren Verstand und unsere Vorstellungskraft unendlich übersteigen. Wenn wir dann einen Moment innehalten , uns hier stehen sehen , klein , schwach , von Sorgen geplagt , und plötzlich Abstand gewinnen , wird diese Ehrfurcht im Anblick der Schönheit vor unseren Augen vielleicht in Dankbarkeit verwandelt , Dankbarkeit dafür , daß wir aufgrund Seines ewigen Ratschlusses ins Dasein gerufen wurden , daß Er gerade uns – jeden einzelnen – aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten , die Seiner Allmacht offenstehen , für das Geschenk des
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