Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
und wie die Brustwarzen herausgedrückt werden , obwohl die Stoffe direkt aufeinanderkleben. Sie fürchtet trotzdem , daß mehr zu sehen ist als zu sehen sein soll. Es ist ihr peinlich , sie gestikuliert , um Blicke abzulenken , seinen und alle anderen , zupft den Blusenstoff von den Schalen. Sie hat unglaublich große Brüste. Noch nie hat er bei einem Mädchen so riesige Brüste gesehen. Er fragt sich , was das bedeutet , ob es überhaupt etwas bedeutet oder ob es für den Charakter ebenso unwichtig ist , wie zum Beispiel die Mützengröße.
Der Präses sieht nicht zu ihr hin , obwohl er gerade einmal zwei Meter von ihr entfernt steht und nur die Augen vom Boden heben müßte. Er schaut sich auch nicht um , wer von den Schülern sie anstarrt. Wahrscheinlich benötigt er seine Augen gar nicht , um zu wissen , was die Leute in seiner Umgebung umtreibt. Ohnehin geht er davon aus , daß der menschliche Wille von Grund auf verderbt ist. So gesehen besteht keine Notwendigkeit , daß Carl so tut , als interessierte ihn das alles nicht.
Ursula-Ulla zupft noch immer an ihrer nassen Bluse. Es sind schöne Gesten. Carl wünscht sich , er wäre der einzige , der ihr zusieht.
Jan Rasche , der zu Miersch will , um ihm einen Karabiner für die Fahne zu bringen , hält mitten in der Bewegung inne , wendet sich den Mädchen zu , streicht sich den Bart glatt , sagt: »Das ist definitiv das beste Wasser der Welt.«
»Hab ich gerade schon gehört« , entgegnet sie lachend. »Trotzdem ziemlich naß. Und kalt.«
»Trocknet schnell in der Sonne.«
Die Obernonne Pankratia sagt: »Wie ich gesehen habe , ist Ihre Gitarre auch wieder dabei , Herr Rasche.«
»Ohne Gitarre hat das Leben keinen Sinn , Schwester.«
Rasche ist drei Jahre älter als Ursula-Ulla – der perfekte Abstand für ein Paar. So , wie er sich in Szene setzt , wippender Schritt , spöttische Mundwinkel , gefällt sie ihm. Ob er ihr gefällt , läßt sich noch nicht beurteilen. Kann sein , daß er zu hippiemäßig aussieht für ihren Geschmack. Seine Eltern finden Rasches Äußeres grauenhaft , aber Carl muß objektiv zugeben , daß er toll aussieht , selbst wenn es ihm anders lieber wäre. Und er singt noch besser als er aussieht. Carl kennt niemanden , der annähernd so gut Gitarre spielt. Nicht einmal Bart , obwohl seine E-Gitarren-Soli inzwischen Plattenniveau haben.
»Und was für Musik?«
»Alles. Solange sie gut ist.«
»Herr Rasche ist ein phantastischer Musiker. – Sie werden jetzt Gitarre in Holland studieren , hat der Herr Präses erzählt.«
Er nickt und wendet sich wieder an Ursula-Ulla: »Nach dem Abendessen spiele ich oben vor dem Heuschober. Wenn ich hier bin , ist das immer mein Platz. Vielleicht hast du ja Lust. Sie sind natürlich auch eingeladen , Schwester.«
Da er volljährig ist und kein Schüler mehr , kann er im Grunde tun , was er will. Niemand hat ihm zu befehlen.
»Was ist jetzt mit dem Karabiner?«
»Gleich.«
»Ich mag halt keine Musik , die zu hart ist.«
»Gibt es bei mir gar nicht – nur handgemachte Lie-der: Bob Dylan , Hannes Wader , Reinhard Mey , die Beatles …«
Wenn er sie haben will , kann er sie haben.
Schrecklich , die Vorstellung , daß es so einfach ist , ein Mädchen in sich verliebt zu machen , wenn man gut aussieht und Gitarre spielt.
Guntram biegt um die Ecke , hat einen der dicken roten Leinenwälzer unterm Arm , die er seit Wochen liest , Franz Stein von Isingen , nach Guntrams Einschätzung der einzige Theologe , der etwas Substantielles zu Kunst und Ästhetik zu sagen hat. Er setzt sich ins Gras. Statt zu lesen , schaut er sich Rasche und die Mädchen am Wassertrog an. Sein Gesichtsausdruck wandelt sich von Beflissenheit in Verachtung. Dabei hat er selbst seit einigen Monaten eine Freundin. Kurz vor den Ferien hat er es Carl erzählt , als sie einen ihrer vertraulichen Abende hatten , vor den Fischen saßen und darüber nachdachten , wie die Brutalität der Natur mit dem liebenden Gott vereinbar ist. Über die Aggression sind sie auf die Libido gekommen , und da hat Guntram ihm von einem Mädchen aus Forch erzählt – Irma heißt sie. Er küßt sie auch. Mehr allerdings nicht. Es belastet ihn , daß er im Zusammensein mit ihr manchmal weiterreichende Wünsche verspürt , die er vor ihr zu verheimlichen sucht , damit sie nicht über die Abgründe in seinem Innern erschrickt. Hauptsächlich verbindet ihn mit ihr eine geistige Freundschaft , die ihre Erfüllung in Gesprächen über Musik und Literatur
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