Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Übung in Serpentinen hat , nicht leichtsinnig oder übermüdet die nächste Kehre zu schnell nimmt.
Ein Seitental tut sich auf , dann sind sie in einem Bergstädtchen , die Straße so schmal , daß kein Gegenverkehr passieren könnte. Verkümmerte Häuser , Bruchsteinplatten in Schichten gestapelt , unzählbare Schattierungen Grau , gelbliche Moose , bleiche Flechten. Eine alte Frau mit rotweißem Kopftuch und Beinen , krumm wie Ibisschnäbel , trägt eine Blechkanne über die Straße. Sonst nirgends Menschen. Geschlossene Blenden , karierte Vorhänge. Eine Madonna in leuchtendem Hellblau steht im Erker eines Eckhauses. Dann wieder unvermittelt Schwarz. Im Bus die schummrige Nachtbeleuchtung , draußen Neonstäbe , die vorbeirasen. Carl nimmt die Stirn von der Scheibe , schaut zu Guntram , Guntram schläft , verdreht , den Kopf in den Nacken gekippt. Weiter vorn räkelt sich Eberhard Simon , neben ihm die blonden kurz geschnittenen Haare von Pöttering. Die Enge des Tunnels nimmt bedrohliche Ausmaße an. Carl steht auf. Durch die Frontscheibe ist das Licht am Ende noch immer nicht sichtbar. Aber fünf Reihen vor ihm sitzt sie , Ursula , Usch oder Ulla , in ihren Arm geschmiegt die kleine Schwester. Sie ist höchstens neun und wird sich zu Tode langweilen. Bestimmt wollte Schwester Adelgundis jemanden dabeihaben , an dem sie ihre sadistischen Muttergefühle ausleben kann. Ein Kind , das nicht widerspricht. Carl stellt sich auf die Zehenspitzen , hält sich mit einer Hand an der Ablage fest , lehnt sich zur Seite , als tastete er nach etwas. Auch so sieht er kaum mehr von ihr , Ursel , Usch, als den Scheitel , dickes , braunes Haar , stramm zum Zopf geflochten. Der Kopf leicht schräg. Im Lauf der Nacht haben sich einzelne Haare aus Klammern und Spangen gelöst , gekräuselte Linien , die das Restlicht auffangen. Eine Welle Trauer angesichts der völligen Aussichtslosigkeit all dessen , was er sich vorstellen kann. Der Vater hat recht: Die Hälfte der dreißig jungen Männer , die in gut einer Stunde die Gregoriushütte beziehen , werden versuchen , sie zu bekommen.
Endlich ein heller Punkt , der zur Fläche wird. Grüntöne , sanft ansteigende Hügel hintereinandergestaffelt , einzelne Holzhütten darin , dunklere Partien Kiefern- und Tannenwald , ein Schneefeld , das sich die Hänge hinaufschiebt. Geröll , Felsbrocken , Steilwand. Ein Wasserfall stürzt aus dem Nichts ins Nichts , unten , wo er aufschlägt , dem Blick verborgen , das Bett der Klier. Die Klier fließt jetzt auf der anderen Seite. Sie müssen mitten durch den Berg gefahren sein.
Elf
Das goldene Kästchen mit dem Sichtglas , hinter dem auf rotem Samt ein Stück Knochen befestigt ist , verschwindet in der aus dicken alten Balken gezimmerten Tischplatte. Mit sicheren Griffen setzt der Präses den schwarzen Granitdeckel wieder ein. Seine Lippen bewegen sich , er murmelt Gebetsformeln , das Gesicht nach innen gekehrt. Über dem Anzug trägt er eine grüne Stola , kein Meßgewand. Eging reicht ihm das Weihrauchfaß , verneigt sich. Eine kreuzförmige Wolke steigt auf. Gemeinsam umkreisen sie den Tisch , der jetzt zum Altar wird. Dahinter , an der Rückwand , hängt die Dreifaltigkeitsikone , ebenfalls aus Kahlenbeck mitgebracht. Das Schimmern des Blattgolds zwischen Erzengelgestalten folgt dem Flackern der Kerzen. Eging wendet sich wieder dem Präses zu , eine weitere Verneigung , nimmt das Weihrauchfaß zurück , bringt es hinaus. Der Präses legt die Hände auf den Altar , schaut kurz auf. Sein Blick ist nur ein Wischer über die Köpfe , trotzdem scheint es , als hätte er jeden , der hier steht , samt aller Gedanken erfaßt. Ein ebenso beruhigendes wie beängstigendes Gefühl.
Es sind nicht viele in die Kapelle gekommen. Höchstens die Hälfte derer , die vor drei Stunden den Bus verlassen haben , steht in der leergeräumten , sauber geputzten Nebenhütte , um für die reibungslose Fahrt zu danken , Segen für die nächsten drei Wochen zu erbitten , geschweige denn , weil die Liebe zu Gott sie hergebracht hätte. Der Obergipfelstürmer Pöttering zum Beispiel will Gebirgsjäger werden , Berufssoldat. Deshalb fährt er jedes Jahr zweimal nach Lenza. Im Sommer zum Bergsteigen , im Winter zur Skifreizeit. In beidem muß er sehr gut sein , wenn er die Aufnahmeprüfung bei der Bundeswehr bestehen will. Die Zeiten hier betrachtet er als Trainingslager.
Wie soll jemand , dessen Lebensziel das professionelle Töten ist , Gott lieben?
»Der Herr sei mit
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