Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Lebens ausgewählt hat. So verschwindend gering wir angesichts der Berge erscheinen mögen , wir sind doch jeder als der , der er ist , gemeint und persönlich aufgerufen , uns auf den Weg zu machen zum Gott der Liebe , Ihm näher zu kommen , Schritt für Schritt und Tag für Tag. Die drei Wochen , die wir hier in Lenza verbringen , sind eine besondere Gelegenheit , unserer Gottsuche , die in der Geschäftigkeit des Alltags manches Mal auf der Strecke bleibt , neuen Schwung zu verleihen. Denn wie die Heilige Schrift ist die Natur ein Buch Gottes , das uns Staunen lehrt und vielfältige Anlässe gibt , über Seine Geheimnisse nachzudenken. So hat denn auch das , was wir hier vorhaben , nichts mit Sport zu tun. Es geht nicht darum , wer schneller oben ist , höherklettert , weitere Strecken zurücklegt. Wir sind nicht als Gipfelstürmer gekommen oder mit der Absicht , Berge zu bezwingen . Das hieße ja , wir wollten den Bergen den Kampf ansagen. Aber da lacht so ein Riese doch bloß , wenn einer von uns Winzlingen hier unten so einen Unfug redet. Der einzige Kampf , den wir führen , in der Gemeinschaft und jeder für sich , das ist der Kampf gegen uns selbst. Wir erklären unserer Laschheit den Krieg , die uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit dazu verleiten will , uns treiben zu lassen. Aber wer sich treiben läßt , landet ganz unten. Das ist mit uns Menschen nicht anders als bei den Stöckchen , die ihr oben in die Gletscherbäche werft: Ganz ohne eigenes Zutun enden sie schließlich da , wo es nicht weiter abwärtsgeht: in der Gosse. Wer sich jedoch voller Aufrichtigkeit und Demut auf den Weg macht und hinaufsteigt , der wird oben auf der Bergspitze stehen und mit ruhigem klarem Geist die Weite und Offenheit jenseits aller Horizonte in den Blick nehmen.«
    Längst ist der geheimnisvolle Lichtstrahl wieder verschwunden , hat der Weihrauch sich aufgelöst. Sie , Ursel oder Ulla , streicht der kleinen Schwester übers Haar , die sich umdreht , den Kopf in den Nacken legt , lächelt. Sie heißt Carina.
    Carls Gedanken hängen noch immer zwischen Kopf und Brust fest , sie haben sich nicht einen Zentimeter aus ihm herausbewegt.
    »Der steile Pfad hinauf zum Gipfel wird in den kommenden drei Wochen sowohl wirkliche Erfahrung als auch Realsymbol unseres irdischen Lebens sein. Die ersten Schritte erscheinen leicht: schattige Wege , sanfte Steigungen. Rechts und links wachsen Enzian , Orchideen und Lilien – prächtiger als Salomon in all seiner Pracht je gekleidet war , wie der Herr im Evangelium sagt. Aber all das ist nur Vorbereitung , damit wir Kraft und Ausdauer erlangen für die wirklichen Bewährungsproben. Je höher wir steigen , desto dünner wird die Luft. Statt weichem Gras scharfkantiger Fels. Keine Wege mehr , nur Geröllfelder , Ziegenpfade , Steilwände. Jenseits der Baumgrenze bewegen wir uns durch Regionen , deren Unberechenbarkeit der Mensch trotz aller modernen Technik bis heute nicht im Griff hat.
    Immer wieder verlieren dort Bergsteiger ihr Leben. Manche durch Unvorsichtigkeit oder Übermut , andere durch schicksalhafte Verkettungen , weil es Gottes ewigem Ratschluß gefallen hat , ihr Leben an dieser Stelle zu vollenden. Gleichwohl dürfen wir ohne Furcht sein. Wir vertrauen darauf , daß jeder unserer Atemzüge gezählt ist. Deshalb gibt es für uns keinen Grund , in diesen Zustand aus Angst und Verzweiflung zu fallen , der für den Menschen unserer Tage zur Normalität geworden ist , seit er die Hoffnung auf Gottes Güte durch die Illusion seiner eigenen Herrlichkeit ersetzt hat. Wir gehen weiter , wie das Volk Israel durch die Wüste gegangen ist. Und ebenso wie Moses wußte , als er das Volk zum Aufbruch rief , daß der Weg ins gelobte Land beschwerlich und voller Gefahren sein würde , wissen wir , daß wir die Versuchungen und Prüfungen , die uns durch die äußeren Mächte und den bösen Feind im Innern auferlegt werden , nur mit Gottes Hilfe bestehen werden. Aber was auch immer geschieht , wir sind durchdrungen von der Gewißheit des Glaubens , daß wir nicht tiefer fallen können als in die Barmherzigkeit Gottes , der uns in Jesus Christus als Seine Kinder angenommen hat. Und so wollen wir das Staunen beim Blick auf die Wunder des göttlichen Schöpfungswerks zum Anlaß nehmen , uns wieder neu der Verantwortung bewußt zu werden , die diese Gotteskindschaft bedeutet , auf daß wir ihrer zunehmend würdig werden.«
    Carina dreht sich um , starrt in Richtung der offenen Tür , als ob da