Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
nachzudenken. Aber es ist auch sehr anstrengend , und ich finde die Atmosphäre bedrückend – anders als in Kahlenbeck , wo doch auch vieles lustig war. Hier sieht man überall nur Kranke und deren Verwandte , die zu Besuch kommen. Die meisten wirken sorgenvoll und niedergeschlagen. Überall ist soviel Leid. Heute morgen habe ich ein Mädchen gesehen , höchstens acht oder neun , das hatte eine Glatze und wurde von seiner Mutter im Rollstuhl durch den Garten geschoben. Mir hat es richtig die Kehle zusammengeschnürt , ich konnte den Anblick kaum aushalten. Und dann hat mich Schwester Silvana angeschnauzt , ich soll mich gefälligst auf die Arbeit konzentrieren , statt aus dem Fenster zu starren. Ich war so fassungslos , daß ich gesagt habe: »Schwester , wie kann Gott ein unschuldiges Kind so einer schrecklichen Krankheit aussetzen und es sterben lassen , kaum daß sein Leben richtig begonnen hat?« Und weißt du , was sie geantwortet hat: »Kennen Sie das Sprichwort , Fräulein Ursula: Schuster bleib bei deinen Leisten? – Wenn es Ihre Aufgabe wäre , sich mit diesen Fragen zu beschäftigen , hätte Gott Sie mit anderen Gaben gesegnet. Geben Sie acht , daß Sie sich mit den Tabletten nicht verzählen.«
Ach , Carl , mein Lieblingsbruder , es sind keine schönen Tage für mich zur Zeit. Es kommt mir vor , als würde eine große Dunkelheit alles überschatten , ohne daß auch nur ein Sonnenstrahl durchbrechen kann.
Eben schaue ich auf die Uhr und stelle fest , daß es schon nach zehn ist. Mein Handgelenk tut richtig weh vom Schreiben , und ich sollte längst schlafen , denn mein Wecker klingelt um vier – noch anderthalb Stunden früher als zur Morgenschicht in Kahlenbeck.
Trotz der trüben Aussicht fühle ich mich jetzt leichter , wo ich Dir geschrieben habe. Übrigens läuft die ganze Zeit über die GENESIS -Kassette , die Du mir aufgenommen hast. Ich hoffe , Du bist mir nicht gar zu böse wegen meiner Geheimniskrämerei , und die Enttäuschung , die ich Dir zugefügt habe , führt nicht dazu , daß Du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Mehr denn je ist mir bewußt , wie wichtig Du für mich bist und wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet. Wenn es nach mir geht , stehen wir erst am Anfang einer sehr , sehr schönen Geschichte …
Mach es gut in Deinem ›Arbeitslager‹ und laß bald etwas von Dir hören , Deine Ursula-Ursel-Usch und ( nur für Dich: ) Ulla
Fünfzehn
Großkreutz steht beim Graben , ans Schulgebäude gelehnt , Halbstiefel mit hohem Absatz , weiße Jeans , das lilafarbene Hemd offen bis kurz über dem Bauchnabel , schnalzt mit der Zunge , zeichnet Kurven in die Luft , die Silberkette am Handgelenk klackert , er redet von › heißen Weibern ‹ , mit denen er schon während der Ferien jeden Abend herumgehangen hat und jetzt am Wochenende wieder , in den größten Discos zwischen Köln und Leverkusen , am geilsten das Peacock’s bei Monheim , drei Etagen , Nebelkanonen und Wasservorhänge. Nächtelang tanzt er dort ab. Wenn der Laden geschlossen wird , unter der Woche um drei , am Wochenende um fünf , geht es bloß um die Frage , ob zu ihm oder zu ihr , meistens zu ihm , weil er in der Einliegerwohnung quasi sein eigener Herr ist und von seinen Alten völlig in Ruhe gelassen wird mit diesem ganzen Verbotskram. Er soll kein Kind machen , alles andere ist ihm egal , hat sein Vater gesagt – und das läßt sich schließlich vermeiden.
Großkreutz ist erst seit der Quarta in Kahlenbeck. Beim Wechsel vor zwei Jahren hat er eine Klasse wiederholt , weil die Lehrer an der Schule , von der er kam , ständig bekifft waren und Gruppenspiele veranstaltet haben statt Unterricht. Er ist während der Ferien sechzehn geworden.
Deggendorf schaut ungläubig , fragt , ob sie ihn wirklich ranlassen , so richtig , mit allem , das volle Programm?
Natürlich lassen sie , sagt Großkreutz , er weiß gar nicht , warum hier alle immer so tun , als ob es wer weiß wie kompliziert wäre , ein Mädel aufzureißen , er hat da nie Probleme gehabt , im Gegenteil , er findet es schwieriger , eine wieder loszuwerden , von der er nichts mehr will. Wenn sie sich in ihn verknallt haben , sind sie wie Kletten , und jetzt , wo er das Kleinkraftrad hat , bekommt er sowieso jede.
Ganske starrt Großkreutz mit offenem Mund an. Deggendorf kichert.
»Vergiß den ganzen Schrott , den sie dir hier weismachen wollen , von wegen Mädels sind scheu , wollen sich aufsparen , ihr Jungfernhäutchen schützen: kompletter
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