Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

geratenen Selbstsucht. Gier. Schlanke Finger mit überlangen , rosafarben lackierten Nägeln , die einen Reißverschluß öffnen. Auch Olivia Newton-John wäre besser als niemand. Was in einen hineingekommen ist , wird man so leicht nicht wieder los. Die Bilder äffen sich gegenseitig nach , überschlagen sich: Großkreutz , der einer Lockenblondine die Brüste leckt , sich einen Pariser überstreift. Ausschnitte von Körpern über dem , was Carl sieht , dunkelgrüne Eichen , schwer tragende Apfelbäume , Joschrupp mit der nassen Hose , der Graben , auf dem Ölschlieren treiben. Carl , eingeschlossen in seinem Kopf , seiner Haut. Ulla , die weichen Formen ihres Körpers so weit entfernt , daß man es in Kilometern nicht messen kann. Alles , was geschehen soll , ist schon geschehen. Er sieht es klar und unklar auf der bleiern schimmernden Wasseroberfläche wie eine Erinnerung. Was würden sie tun , was hätten sie getan , wenn sie zusammen wären , gewesen wären am Tag und in der Nacht? Er will es sich vorstellen , im einzelnen , scharf umrissen , so , wie er Abend für Abend im Bett versucht , ihr Gesicht heraufzubeschwören , das mehr und mehr dem Mädchen Lise auf der Postkarte des Renoir-Bilds gleicht , weil er Ulla schon sieben , fast acht Wochen nicht mehr gesehen und es bis jetzt nicht gewagt hat , sie um ein Photo zu bitten. Ihre Nacktheit , eingezwängt in stählerne Büstenhalter , Miederhosen. Höchstens für Sekundenbruchteile ist ihr Anblick da , zu kurz , um ihn sich einzuprägen. Was er festhalten will , löst sich auf. › Die Bilder , die der böse Feind in unsere Seele einschleust , haben keinen Bestand ‹ , sagt der Präses. › Sie dienen nur dazu , uns vom rechten Weg abzubringen. – Ihr seid im Krieg , denkt daran: im Krieg mit dem Teufel. Und das Wichtigste , wenn man einen Krieg gewinnen will , ist ständige Wachsamkeit. ‹
    Carl kennt die Fragen im Gewissensspiegel auswendig:
    Bemühe ich mich um Lauterkeit meiner Gedanken , Vorstellungen und Wünsche? Lasse ich mich treiben und von der sexuellen Begierde beherrschen? Habe ich die Selbstbefriedigung gesucht? Habe ich die voreheliche Keuschheit verletzt? Habe ich ein unerlaubtes Verhältnis unterhalten?
    Alles , was mit der Liebe zu tun hat , selbst wenn es nur vor dem inneren Auge geschieht , ist Todsünde. Wer im Stand der Todsünde stirbt , geht direkt in die ewige Verdammnis ein , da ist der gekreuzigte und auferstandene Herr in Seiner unendlichen Güte machtlos.
    Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt , hau sie ab , denn es ist besser für dich , verstümmelt in das Leben zu gelangen , als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen , in das nie erlöschende Feuer.
    Auf dem Sportplatz üben Lipschitz und Schmidt Elfmeterschießen. Dahinter die Schwimmhalle , wo Joschrupp unter der Dusche die Badehose platzt , wenn er Frieder sieht. Carl muß diese Szenen aus seinem Kopf herausschneiden , sie sind schleichendes Gift , das alles , was mit der Liebe zu tun hat , krank färbt. Sie soll doch ein Traum sein , die Liebe , ist ein Traum gewesen , rein , ohne Makel , Licht im Dunkel , das jahrtausendelang alles verwandelt hat , der Mann , die Frau , von denen die Dichter gesungen haben , Sehnen , Taumel , schwerelos , überdeutlich verschwommen , ein Versprechen von jenseits der Zeit , Abglanz des Paradieses , damit die Vertriebenen in diesem schweren Erdendasein einen Rest Hoffnung haben auf ihrem Weg zum Tod. Zwei , die Hand in Hand gehen. Schon vor dem ersten Schöpfungstag sind sie einander bestimmt worden , als das Wort bei Gott war , ein Gedanke des Ewigen , an dem Er Sein Wohlgefallen hatte. Wenn sie weniger wäre , die Liebe , hätte nichts einen Sinn , ganz gleich , was Großkreutz daherredet. Carl jedenfalls kann keine Hoffnung im wahllosen Hantieren an Unterleibsorganen erkennen , seelenlose Handgriffe , um den Ausstoß klebriger Flüssigkeiten herbeizuführen , wieder nur jeder für sich , ein Objekt , ohne Geheimnis , ohne Verbindung. Andererseits.
    Wer weiß , ob überhaupt stimmt , was Großkreutz sagt. Vielleicht sind seine Geschichten bloß Geschwätz eines minderbemittelten Angebers. Außer dem Pariser gibt es keine Beweise , und eine Packung Pariser könnte Carl sich morgen , wenn er Ausgang hat , selber kaufen , jetzt , wo er weiß , daß es sie in Forch auf dem Bahnhofsklo gibt.
    Gegenüber , auf der inneren Seite des Grabens , ist Benno Spranger mit drei Quintanern auf dicken Pferden unterwegs zum Reitplatz. Zweige mit