Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
zwischen Ulla und ihm entgegenzuwirken. Das hält Carl für ausgeschlossen , trotz der sonderbaren Ansichten über die Liebe von Mann und Frau , die auch der Präses vertritt.
»Dein Freund redet nicht mehr mit mir , Bernhard , was sagst du dazu? Dabei wollte ich ihn lediglich auf dem Weg der Selbsterkenntnis ein Stück voranbringen , damit er nicht eines Tages unvorbereitet vor den Abgründen seines Unterbewußten steht und von der eigenen Dunkelheit überwältigt wird. Da ist es doch sehr undankbar von ihm , daß er sich wie ein Trotzkopf aufführt , findest du nicht?«
Kuffel hat den Blick auf den Boden geheftet , murmelt vor sich hin , ist nicht in der Lage , Holzkamp zu bremsen. Holzkamp starrt an die Decke , um zu demonstrieren , daß er wartet , genervt wie man auf ein dummes Kind wartet.
In Carls Kopf hat eine ungeordnete Drehbewegung verschiedener Gedanken , Bilder , Reflexe , Gefühlsregungen eingesetzt , als ob mehrere Kreisel auf engstem Raum rotierten , gegeneinanderstießen , sich wechselseitig aus der Bahn würfen. Von draußen zwei Glockenschläge , lauter , als er sie in Erinnerung gehabt hat. Halb zehn.
Er schaut zu Kuffel , der im Sessel versunken ist , trifft seinen Tierblick. Eine befremdliche Mischung aus Wärme , Verzweiflung , Lachen und Flehen schlägt ihm entgegen. Er muß auf sein eigenes Zimmer. In Kürze wird Bruder Walter den ersten Kontrollgang machen.
»Mir reicht es« , sagt Carl , seine Stimme klingt , als hätte er einen Kloß im Hals , steht auf , stolpert zur Tür: »Du solltest dein Hirn mal …«
»Vielleicht« , sagt Kuffel leise , als wagte er den Gedanken kaum , »vielleicht können wir morgen oder übermorgen nachmittag mal in Ruhe einen Tee trinken und einander von den Ferien erzählen. Oder ich besorge uns nach dem Abendessen ein Bier.«
Carl hält inne: »Weiß ich jetzt nicht« , sagt er , versucht trotzdem zu lächeln , reißt die Tür auf.
Kuffel ist ein Mensch , den er mögen könnte. Kuffel weiß viel über Gott , Philosophie , vielleicht kennt er Antworten auf einige der Fragen , die zunehmend bedrängender werden. Trotzdem schlägt er die Tür zu. Hinter ihm Holzkamps widerwärtiges Gelächter.
Carl hat das Zimmer jetzt für sich allein , wie es ihm als Obertertianer zusteht. Guntram ist in den renovierten Trakt ein Stockwerk höher gezogen , wo jeder ein eigenes Waschbecken hat und das Bett sich auf einer Schlafempore befindet. Erstmals seit vier Jahren muß er sich mit niemandem abstimmen , wer zu welcher Zeit Musik hören darf und wann das Licht gelöscht wird. Niemand wird auf sein Bett treten , um das Fenster zu öffnen , im Vorbeigehen schauen , was auf seinem Schreibtisch liegt , sich seinen Tesafilm ausleihen , sein Lexikon benutzen. Doppelt so viel Platz. Aber kein Schlüssel. Nach wie vor kann zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand ohne anzuklopfen im Zimmer stehen , jetzt sogar direkt neben seinem Bett , schauen , was er tut , Verbotenes , Peinliches , Heimliches , kann seine Zeit , seine Nerven beanspruchen , Sachen klauen , die Post auf seinem Schreibtisch durchwühlen.
Mein lieber kleiner großer Bruder ,
ich hoffe , Du bist mir nicht böse , daß ich so lange nicht auf Deinen letzten Brief geantwortet habe. Glaub bitte nicht , daß ich Dich vergessen hätte oder daß unsere Freundschaft mir unwichtig geworden ist. Bei mir hat ein schreckliches Durcheinander geherrscht , nicht nur , weil ich – wie ich Dir geschrieben hatte – umziehen und mich im Schwesternwohnheim neu einrichten mußte. Mein Leben war eine Achterbahn der Gefühle , und da wollte ich Dich nicht mit hineinziehen. Aber jetzt , wo es so aussieht , als ob alles vorbei wäre , möchte ich , daß Du die volle Wahrheit kennst , allein schon , damit Du mir nicht eines Tages mißtraust , weil Dir etwas zu Ohren gekommen ist. ( Du weißt ja selbst , wie die Kahlenbecker Gerüchteküche brodelt. ) Es fällt mir nicht leicht , Dir von alldem zu berichten , und ich muß Dich wohl auch um Entschuldigung bitten , daß ich Dir wirklich wichtige Dinge verschwiegen habe. Von heute aus gesehen , kann ich mir nicht erklären , weshalb ich so dumm gewesen bin. Aber hinterher ist man immer klüger. Glaub mir , daß es nichts mit Mangel an Vertrauen zu tun hatte. Es gibt keinen Menschen auf der Welt , dem ich mehr vertraue als Dir. Selbst Andrea gegenüber , die während der letzten drei Jahre in alle meine Herzensangelegenheiten eingeweiht war , habe ich diese Sachen bis jetzt
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