Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Wenn sein Leben jetzt enden würde , hätte er die ewige Verdammnis mehr als verdient. Es bräuchten weder ein Blutbad noch Selbstmord hinzuzukommen. So oft hat er mit dem Hammer auf den Nagel in der Hand des wehrlos vor ihm liegenden Herrn eingeschlagen , daß er vor Scham verbrennen muß , wenn am Jüngsten Tag der Gottessohn auf dem Richterstuhl Platz nimmt und seinen Namen ruft. Das wird bald geschehen. Spiritual Krohkes sagt , daß jede Seele in dem Moment , wo sie vor ihren Richter tritt , klaren Auges sieht , was sie auf Erden an Gutem und Bösem angehäuft hat. Im Licht schonungsloser Selbsterkenntnis spricht sie ihr eigenes Urteil. Ihm fiele nichts ein , was er zu seinen Gunsten in die Waagschale werfen könnte. Er besteht aus Bosheit. Kein Schwächerer ist vor ihm sicher. Er quält , demütigt , drangsaliert jeden , der ihm in die Quere kommt , je wehrloser , desto besser. Sobald er allein ist , gebiert sein verderbter Wille Wahnbilder von entfesseltem Fleisch , in widernatürlichen Posen verkeilten Leibern , wie sie die Menschen in den verfluchten Städten hatten , Sodom , Gomorrha , Ninive , ehe der Zorn Gottes über sie hereinbrach und sie ausgelöscht hat , den Nachgeborenen zur Warnung.
Aber wenn ein menschliches Wesen unter der Sonne , nur ein einziges , ein Mädchen , eine Frau , ihn tatsächlich erkennt in all dieser Dunkelheit und sich nicht angewidert abkehrt , obwohl sie den Dreck ahnt , in dem er unterzugehen droht , sondern bleibt , seinen Blick aushält , dort etwas sieht , das trotz allem gut ist und nicht ins Feuer geworfen werden soll , weil es einen Wert hat , und sei es nur für sie allein , dann wäre das Grund genug , nicht aufzugeben. Von dem Moment an , in dem er ohne irgendeinen Halt in diese Augen taucht , würde er wieder glauben , daß es gut mit ihm ausgehen kann. So war es , als er mit Ulla auf der Wiese saß. An diesem besten Tag seines bisherigen Lebens , als sie die Erlaubnis hatten , ein paar Stunden zu zweit im Paradies zu sein.
Er muß sie wiedersehen , bald , ehe es zu spät ist. Vielleicht reicht eine kurze Berührung der Hände , und ihr letzter Widerstand fällt in sich zusammen.
Aber von Mariendorn nach Kahlenbeck sind es fast zwanzig Kilometer. Sie hat kein Auto. Nicht einmal einen Führerschein. Wenn sie mit dem Bus fahren will , muß sie viermal umsteigen. Die Verbindung funktioniert nur unter der Woche , samstags dauert es noch länger , sonntags gibt es gar keine Möglichkeit. Er selbst kann Kahlenbeck außer an den Heimfahrtswochenenden überhaupt nie länger als zweieinhalb Stunden verlassen. Seine Eltern werden ihn kaum nach Mariendorn bringen. Sie müßte an einem ihrer freien Tage den Zug nach Forch nehmen , und er käme ihr mit dem Fahrrad entgegen. Er würde das Silentium schwänzen , eine Ausrede erfinden , am nächsten Tag Strafdienst machen. Sie könnten sich in einem Café treffen oder im Stadtpark. Das wäre ein Anfang. Wenn der Anfang erst gemacht ist , wird es weitergehen. Nach dem dritten oder vierten Mal wird Bruder Walter ihn erneut zum Präses schicken , doch diesmal ist er vorbereitet. Vielleicht bekommt er einen Verweis. Er wird sich Geld zum Geburtstag schenken lassen und ein Hotelzimmer buchen. Das ist die einzige Chance , mit ihr allein zu sein: Zwei Wesen , die ihr Leben lang getrennt waren , in sich selbst verkrümmt , brechen die Kapseln auf , in denen jeder für sich durch das All getaumelt ist , fließen ineinander. Wirbel und Strudel , ein Rauschen , schwebend , verloren , in Räumen aus Nachtgewebe , zwischen Wolkenlaken , Seidenkissen. Das Gewicht , die Last des Tages , wird hinweggehoben , seine Haut läßt sich nicht mehr von ihrer Haut unterscheiden , dieselben Bewegungen , ein einziges Versinken , hellwach , sehenden Auges. Die Zeit hört auf davonzurasen , keine Trennung mehr. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen , und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei , sondern eins.
Sechzehn
»Eging hat beim Abendessen erzählt , daß immer noch diskutiert wird , welche Konsequenzen in der Mantz-Affäre gezogen werden sollen« , sagt Kuffel. »Schuckart verlangt , daß Mantz geschmissen wird , er will ihn sogar wegen Verführung Minderjähriger belangen , weil seine Tochter erst sechzehn ist , Mantz aber schon achtzehn. Roghmann würde ihn auch gerne schmeißen , schreckt aber vor dem Skandal zurück. Zumal Mantz behauptet und das sogar vor Gericht beeiden würde , daß sie vollständig angezogen
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