Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
grünen Blättern treiben auf der Wasseroberfläche , abgerissen von Sturmböen zwei Nächte zuvor. Dem Kalender zufolge beginnt in vier Tagen der Herbst. Carl fürchtet sich bei dem Gedanken. Einen weiteren Winter wie den letzten wird er nicht überstehen , ohne daß etwas Entsetzliches passiert: Eines Morgens wird er aufwachen , abgewandt , sich nicht mehr rühren können vor Schwäche. Oder er findet den Weg aus den Nachtgespinsten nicht zurück , redet wirr , hat seinen Namen vergessen , wie Hegemeister , den sie in die Klapse gebracht haben , um ihn vor sich selbst zu schützen. Oder plötzlich , während es vor den Fenstern des Speisesaals zu schneien beginnt , wird die Pfandfinderaxt zu Benno Sprangers Füßen übergroß , eine teuflische Macht überwältigt Carls Willen , läßt ihn aufspringen , dann hat er sie in der Hand , schreit , schlägt um sich , zertrümmert Tische , Geschirr , tötet jeden , der sich ihm in den Weg stellt , ein Berserker im Blutrausch , bis ihn irgend jemand erschießt.
Seit Monaten hat er dieses Bild.
Es muß nicht so kommen. Es kann immer noch sein , daß das Wunder geschieht: Der Herbst beginnt erst. Alles kann sich zum Guten wenden. Vielleicht helfen Eis und das Dunkel am Horizont sogar. Niemand will allein bleiben bis zum nächsten Frühling. Zwei , die noch zögern , werfen angesichts der Schrecken des Winters die Furcht voreinander ab. Auch Ulla sagt das: Ihr graust vor endlosen Nächten in Einsamkeit , ohne Geliebten. Carl ist sicher , daß eine Spur Frage in ihrer Stimme mitschwang , an sich selbst und an ihn , die vorsichtige Überlegung , ob er nicht doch entgegen aller Wahrscheinlichkeit diesen Platz einnehmen könnte. Zwar denkt sie oft an Rasche , aber aus Sehnsucht ist Zorn geworden. Vier Wochen nach seinem Verschwinden hat Rasche ihr eine dürre Postkarte geschickt , auf der stand , daß er sich mit seiner ganzen Existenz der Musik verschrieben hat , die seine eigentliche Bestimmung ist. Deshalb muß er sein Privatleben opfern. Nicht einmal seine Adresse für eine Antwort hat er ihr mitgeteilt.
Carl bekommt jetzt alle drei bis vier Tage Post von ihr. Die Umschläge sehen ungeöffnet aus. Doch der Ton ihrer Briefe verändert sich. Sie schreibt von Küssen , die sie unter die Briefmarke geklebt hat , in Kürzeln zwar , › KKUDM ‹ , › GUKDU ‹ , halb scherzhaft , aber es bedeutet , daß sie das Wort »Kuß« im Zusammenhang mit ihm schon gedacht hat. Hinter »Lieblings-« , wo anfangs »Bruder« stand , macht sie seit neuestem drei Pünktchen. Was soll das anderes heißen , als daß in ihrem Gefühl für ihn jetzt Nuancen jenseits des Geschwisterlichen mitschwingen. Je länger er darüber nachdenkt , desto sicherer ist er: Ihr letztes Telephonat war schon ein Gespräch zwischen Liebenden. Sie flüsterte , damit nicht das ganze Wohnheim mithörte , er hielt seine Lippen so nah an den Hörer , als hauchte er direkt in ihr Ohr , während der Apparat in aberwitziger Geschwindigkeit sein Taschengeld verschluckte und Fratzen schneidende Quartaner gegen die Scheibe trommelten. Es ging um innerste Herzenswünsche , Traurigkeiten , von denen man nur jemandem erzählt , der einem ganz nahesteht. Allerdings gebrauchte sie ein- oder zweimal sonderbare Formulierungen , die ihn stutzig gemacht haben. Als wäre da noch jemand anderer.
De facto ist er ein Mann , daran ändern auch dreieinhalb Jahre Altersunterschied nichts. In zwei Wochen wird er fünfzehn. Er ist körperlich in der Lage , ein Kind zu zeugen , nicht erst seit gestern. Wenn es von der Natur so vorgesehen ist , dann hat Gott es gewollt. Er hat den Menschen erschaffen , wie er ist , was auch immer behauptet wird von Eltern , Erziehern , dem kirchlichen Lehramt.
Wahrscheinlich würde er sie sogar heiraten , aber es ist ihm verboten , obwohl er mit dem Empfang des Sakraments der Firmung als mündiger Christ gilt.
Es ist Liebe , aber sie ist nicht rein. Sie wird überlagert und untergraben von etwas Dunklem , einem grausamen Tier , das jederzeit ausbrechen , die Herrschaft über ihn an sich reißen kann. Wenn es zu rasen beginnt , ist er wehrlos. Es versklavt ihn , befiehlt Dinge zu tun , die er verabscheut , hinterläßt Verwüstung. Wenn es seinen Willen gehabt hat , zieht es sich ebenso plötzlich zurück , wie es zu rasen anfängt , in einen von undurchdringlichem Schatten verfinsterten Seelenwinkel. Im Spiegelbild sieht Carl niemand anderen als sich selbst , die Heimstatt der Bestie: Er ist ein Verworfener.
Weitere Kostenlose Bücher