Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
den Stuhl: Das Fenster ist geschlossen. Hat Gänsehaut.
› Es war nur ein Gedanke , eine Möglichkeit , wenn sie dir nicht behagt, vergiß sie . ‹
Tonfolgen , glitzernd wie frühe Sterne an mondlosem Himmel in einem Waldsee gespiegelt. Vor den erleuchteten Zimmern gegenüber Schattenrisse: Gauben , die Kiefer im Hof. Unten Gräber von Chorherren , Nonnen , Präfekten , linker Hand das Kirchenschiff mit dem Dachreiter. Im Altarraum , neben der Tabernakelsäule aus Alabaster , brennt das ewige Licht. Der Herr in der Gestalt des Brotes ist wahrhaft anwesend. Bei Ihm ist reiche Erlösung. Letzte Strahlen der untergehenden Sonne brechen durch einen Riß des Horizonts. Vor blauschwarzem Himmel leuchtet golden der Hahn. Carl wird einen Moment lang geblendet. Es gelingt ihm kaum , der Musik zu folgen. Das , was da perlt , schimmert , stampft , grollt , ist nicht Musik. Silberne Linien , die durch den Raum irrlichtern wie lebendige Wesen , Luftnymphen , Sirenen , wegtauchen , verschwinden , andernorts wieder aufscheinen , es sind dieselben , ihre Dopplungen , liebreizende Gesichter , die Freundlichkeit vorgaukeln , zu Fratzen werden , aufgerissene Münder , Gleißen und Flirren über dunkleren Schlägen. Immer wilder wechseln sie sich ab , verschlingen einander. Jemand versucht im letzten Augenblick zu entwischen , wird von der kreischenden Menge umringt , mit grollenden Bässen in die Ecke gedrängt , kein Ausweg , gemeine Scherze , falsche Schmeicheleien , Gewaltandrohung , neckische Triller , die im Genick spielen , zupackende Hände , brachiale Überwältigung , Wirbel knacken , Geschrei , spitz und kehlig , ein Sprung ins Nichts , tosender Applaus , › Bravo ‹ -Rufe.
Carl steht auf dem Stuhl , schaut hinunter. Er selbst war es , der gesprungen ist , was tut er noch immer hier oben? Mechanisches Klacken , als sich die Nadel aus der Rille hebt , der Tonarm zur Seite fährt , in seine Halterung sinkt. Das Lämpchen am Plattenteller erlischt. Die kreisende Scheibe wird langsamer , hält an , ein Rätsel. Vom Stuhl aus ist es nur ein Schritt bis zum Boden , wer weiß , ob er unter den Füßen noch trägt. Carl schließt die Augen , holt Luft. Spürt , wie eine weit in die Dunkelheiten des Alls ausgreifende Bewegung in ihm zum Stillstand kommt. Wer war das , was war das , das alle Fluchtlinien , Sichtachsen im Raum so verschoben hat , daß keine Orientierung mehr möglich ist , und weshalb braucht Kuffel so lange , um Bier zu holen?
Er nimmt die Plattenhülle vom Tisch , liest: Die Horowitz-Konzerte 1978 / 79 , Seite zwei: Franz Liszt: Mephisto-Walzer , 12 Minuten , 15 Sekunden .
Mit einem Ruck geht die Tür auf. Kuffel schaut ihn an , ängstlich , hat zwei Flaschen Bier in den Händen: »Tut mir leid , daß es so lange gedauert hat« , sagt er , »ich mußte warten , Bruder Walter ist aufgehalten worden , wieder wegen Mantz.«
»Und? Was haben sie vor?«
»Es wird wohl bei einem Verweis bleiben. Außerdem bekommt er Kontaktverbot. Er darf die Schuckart-Schnepfe bis zum Abitur nicht mehr sehen , und beim geringsten Verstoß ist er weg vom Fenster.«
Carl stöhnt auf , als hätte ihm jemand in den Bauch getreten.
»Man muß bis zum Äußersten gehen« , murmelt er , »wenn nötig darüber hinaus.«
Seine Knie sind wacklig , jetzt wo er sich selbst in einer ähnlichen Lage befindet oder unmittelbar davor: Wenn er den Ton in Ullas letzten Briefen nicht falsch verstanden hat , so falsch , wie sich ein Ton gar nicht falsch verstehen läßt , dann wird sich alles ändern zwischen ihnen , schon bald , sie müssen nur endlich leibhaftig zueinanderfinden , in Forch oder Mariendorn oder sonst irgendwo in dieser aller Liebe feindlich gesinnten Welt.
Was täte er , wenn der Präses im Verbund mit seinen Eltern , womöglich unter Androhung juristischer Konsequenzen wegen des Altersunterschiedes , ihm jeden Kontakt zu Ulla untersagen würde? Angesichts der Reaktion seiner Mutter auf die Frage nach einer Freundin oder beim Gedanken an den Rauswurf , den der Präses Rasche in der Schweiz angekündigt hat , wird ihm schlecht. Was bliebe? Selbstmord , wie in den Büchern ; gemeinsame Flucht. Er muß sich mit diesen Gedanken vertraut machen. Seine Kinderzeit ist zu Ende , kein Schutz mehr im heimischen Nest. Die Zweige des Nests sind das Gestänge des Käfigs , in dem es kein Glück gibt. Auch das muß er sich klarmachen: Wenn er ausbricht , wird nichts von dem , was sein Leben hätte werden sollen , noch möglich sein: ohne
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