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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Gerhard nur, dass seine Eltern wohl niemals den Blick in ihre Vergangenheit wagen werden, um größere Klarheit über den Ursprung eigener Gefühle und Verhaltensweisen zu erlangen. Eine Psychotherapie schließen beide Eltern für sich kategorisch aus – obwohl die Mutter selbst jahrzehntelang angehende Erzieherinnen in Psychologie und Pädagogik unterrichtete. Dochdie Abwehr ist zu groß. „An dieses Thema kommt man bei ihnen überhaupt nicht ran“, bedauert Gerhard. „Dass sie ihre Fehler haben, wie alle anderen auch, das räumen sie ohne weiteres ein. Aber noch einen Schritt weiterzugehen und die Vergangenheit anzuschauen, das können oder wollen sie nicht mehr. Das scheint vielen Eltern aus dieser Generation so zu gehen: Trotz ihrer eigenen Erfahrungen finden sie den Weg in die Therapie nicht. Und stattdessen machen das dann ihre Kindern für sie.“
„Ich fühlte mich schon als Kind für meine Mutter verantwortlich.“
    Alicias Eltern, beide 1943 in Königsberg geboren, verbrachten ihre ersten zwei Lebensjahre überwiegend in Luftschutzkellern und auf der Flucht. Daran erinnern sich Vater und Mutter allerdings kaum. Dennoch hat die frühe Kriegs- und Nachkriegszeit bei ihnen Spuren hinterlassen. Das ist nicht erstaunlich, denn gerade die Erfahrungen, die wir am Anfang unseres Lebens machen, beeinflussen unsere emotionale Entwicklung oft am stärksten.
    Alicias Eltern versuchten, das Trauma ihrer frühen Lebensjahre zu bewältigen, indem sie die fragilen Lebensumstände ihrer ersten Lebensjahre immer wieder inszenierten – durch häufige Umzüge, selbst gewählte Armut, ständige Beziehungswechsel, markante politische Feindbilder. „Wenn wir uns nicht erinnern, werden Dinge wiederholt“, glaubt Alicia. „Und deshalb ging es auch bei uns immer nur ums Überleben.“
    Im Agieren lag das eigentliche Erinnern. Traumaforschern ist diese Art der symbolischen Wiederholung wohl bekannt: Beim unbewussten Versuch, die gefahrvolle Situation wieder zu erleben, haben Betroffene oft die Hoffnung, diesmal ein gutes Ende der Geschichte herbeizuführen und der erlebten Ohnmacht somit ein Ende zu setzen. Eine schwere Notlösung, die in der Regel aber keine Erleichterung verschafft.
    Und auch bei Alicia, 1964 geboren, drohte sich das zu wiederholen, was die Eltern nicht erinnern konnten.

    Anfang 1943 begab sich Alicias Großmutter auf eine beschwerliche Zugreise von Nürnberg nach Königsberg, an der Hand den kleinen Sohn, auf dem Arm die noch kleinere Tochter und im Bauch Alicias Mutter. Die Großmutter wollte ihr drittes Kind in ihrem Elternhaus in Königsberg zur Welt bringen, fernab der Wahlheimat Nürnberg, die ab 1942 regelmäßig bombardiertwurde. Die Reise nach Königsberg dauerte mehrere Tage. Kaum dort angekommen, wurde die jüngste Tochter geboren – doch auch hier kam die Familie nicht zur Ruhe.
    Die Stadt wurde wiederholt von britischen Bomberverbänden bombardiert und im August 1944 schließlich stark zerstört. Oft verbrachte die Familie ganze Nächte im Luftschutzkeller. Im Januar 1945 schließlich erklärten die deutschen Generäle die Stadt zur „Festung“ und forderten am 21. Januar alle Frauen, Kinder und nicht verteidigungsfähigen Männer auf, Königsberg sofort zu verlassen. Kurz darauf drängten sich am Hauptbahnhof die Flüchtenden, und der letzte Zug verließ die Stadt Richtung Berlin. Bereits einen Tag später unterbrachen die Russen die Schienenverbindungen gen Westen – für die Zurückgebliebenen blieb nur noch die Flucht über die Ostsee von der 50 Kilometer entfernt liegenden Hafenstadt Pillau. Erst im April 1945 ergab sich die deutsche Militärführung schließlich den sowjetischen Einheiten.
    Im Winter 1945 trat Alicias Großmutter mit den drei kleinen Kindern und den alten Eltern die Flucht an – eine furchtbare Erfahrung, über die bis heute nicht gesprochen wird. Die Familie ließ sich bald in Köln nieder und auch der Großvater kehrte aus dem Krieg zurück und fand Arbeit. Ein Haus wurde gebaut, langsam kamen alle zur Ruhe. Wie in so vielen anderen Familien auch galt es, die schrecklichen Erfahrungen zu vergessen und nach vorne zu schauen. Den beiden älteren Geschwistern von Alicias Mutter gelang dies offenbar recht gut: Von ihrer Tante weiß Alicia, dass die beiden Großen froh waren, irgendwo angekommen zu sein, nicht nur überleben zu müssen, sondern es sich endlich gut gehen lassen zu können. Doch bei Alicias Mutter war dies anders. „Berichten zufolge kam sie mit der

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