Wir Kinder der Kriegskinder
Sohn als männliche Identifikationsfigur eher unzureichend an.
„Er negierte so ziemlich alles, was mit Männlichkeit und Härte zu tun hatte, sowohl im pervertierten als auch im positiven Sinne“, berichtet Gerhard. „Und er litt unter vielen irrationalen Ängsten, vor allem in Bezug auf politische Themen. Dass ,der Russe‘ kommt oder die Welt völlig instabil werden würde.“ Einen möglichen Grund dafür sieht der Sohn in der Kriegskindheit seines Vaters.
1931 in Nordhessen geboren, wuchs der Vater überwiegend in Halberstadt im Harz auf. Von direkten Kriegseinwirkungen bekam er dort nur wenig zu spüren – vielmehr prägten ihn Kindheit und Jugend unterm Hakenkreuz. Als kleiner Junge durchlief erPimpfe, Jungvolk und Hitlerjugend und war begeistert von den Jugendaktivitäten der Nationalsozialisten. Geländespiele, Lagerfeuer und Gruppenfahrten erfüllten ihren Zweck: „Flink wie ein Wolf, hart wie Krupp-Stahl und zäh wie Leder“ wollte der Junge sein. Möglicherweise fand er im Männerbild der Nationalsozialisten auch einen Ersatz für die Leerstelle, die die lange Abwesenheit des eigenen Vaters hinterlassen hatte: Gerhards Großvater war 1939 eingezogen worden und kehrte erst 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück. Als der Krieg zu Ende war und die Deutschen besiegt waren, kam dies für den 14-jährigen Jungen jedoch einem Schock gleich.
„1945 brach die Welt für ihn zusammen“, berichtet Gerhard. „Er glaubte wohl wirklich, dass der Führer es nicht so weit würde kommen lassen. Und dann war auf einmal alles weg. Ich vermute, dass ihn das sehr prägte.“ Mitten in der schwierigen Identitätssuche als Jugendlicher erwiesen sich die gesellschaftlichen Ideale, die sich Gerhards Vater zueigen gemacht hatte, plötzlich als unnütz: Es stellte sich mehr als deutlich heraus, dass die Nationalsozialisten nicht nur Verlierer, sondern auch Verbrecher gewesen waren. Auch ihr Männerbild taugte nicht mehr zur Orientierung. Zu allem Überfluss geriet der geliebte Großvater in Gefangenschaft – und wies die Familie noch während seiner Gefangenschaft an, umgehend zurück nach Nordhessen, in den amerikanischen Sektor, zu ziehen. Bei Gerhards Vater blieb, so glaubt der Sohn, eine grundlegende Verunsicherung bestehen, die lebenslang anhalten sollte: Er weigerte sich fortan, Autorität auszuüben, innerhalb der Familie und anderswo. „Seine Meinung kam nie zur Geltung“, erinnert sich Gerhard. „Und damit habe ich mich lange auseinandergesetzt. Ich würde sagen, es prägt mich bis heute.“
Gerhard bemühte sich, die Unsicherheit des Vaters aufzufangen. Dieses Bestreben ging so weit, dass er nach seinem Abitur Physik studierte – obwohl er eigentlich kein großes Interesse für dieses Fach hatte. „Als bei mir die Entscheidung für ein Studium odereinen Beruf anstand, merkte ich, dass mein Vater panische Angst davor hatte, ich könnte auf ein Lotterleben zusteuern“, erzählt Gerhard. „Davon habe ich mich stark beeinflussen lassen, ich wollte ja nicht, dass mein Vater meinetwegen leiden muss. Es war mir lieber, diese Belastung auf mich zu nehmen. Also traf ich möglichst schnell die Entscheidung für ein Studienfach, das im Sinne meines Vaters war: Physik.“ Obwohl Gerhard im Laufe des Studiums seine Fächerwahl mehrmals hinterfragte, zog es ihn doch immer wieder „wie verzaubert“ zur Physik zurück. Inzwischen glaubt er, noch einen anderen Grund für seine Entscheidung zu kennen: „Ich wollte meinem Vater näherkommen und endlich Klarheit in das Gefühlswirrwarr meiner Kindheit bringen. Ich wollte das mit Hilfe des Studiums irgendwie aufdröseln.“
Anfang der 1990er Jahre schloss Gerhard sein Studium ab und zog nach Braunschweig – zum ersten Mal in seinem Leben traf er eine freie Entscheidung, machte genau das, was er wollte. Er hängte die Physik an den Nagel, suchte sich einen Job im kaufmännisch-technischen Bereich und begann eine Therapie. „Bis dahin hatte ich mich wie ein Topf gefühlt, in den alle Bedürfnisse hineingeworfen werden konnten. Ich hatte mich dafür geöffnet, ganz unbewusst“, erklärt er. „Vater, du hast Angst ... Mutter, du bist traurig ... gebt her, ich trage das für euch. Die Eltern zu erlösen, das war meine Aufgabe“. Die Psychotherapie half ihm, unterscheiden zu lernen, welche Ängste und Schwierigkeiten seine eigenen waren und welche er von seinen Eltern übernommen hatte.
Heute ist die Beziehung zu Mutter und Vater recht gut. Schade findet
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