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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Kollege hat mich jeden Morgen abgeholt. In der Firma haben sie auf mich aufgepasst, geschaut, dass ich mitziehe. Das hat mir sehr geholfen.“

    Auch das Verhältnis zum Vater erinnert Alicia als schwierig. Die Eltern trennten sich, als Alicia vier Jahre alt war; von diesem Zeitpunkt an fand der Kontakt zwischen Vater und Tochter nur noch sporadisch statt. Auch er, so berichtet Alicia, war unfähig, Struktur und Geborgenheit zu vermitteln. Innerlich blieb er ein bedürftiges Kind und verlangte von Alicia, sie müsse sich mehr um ihn kümmern.
    Seine Kriegsgeschichte ähnelt der von Alicias Mutter: Ebenfalls 1943 in Königsberg geboren, verbrachte er bereits als Säugling mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern eine Menge Zeit im Luftschutzkeller. Sein eigener Vater war eingezogen worden, ob er überhaupt noch lebte, wusste in den Wirren der Kriegsjahre niemand. Anfang 1945 floh die Großmutter mit ihren vier Kindern und zwei Schwestern von Königsberg nach Düsseldorf.
    „Über die Flucht meines Vaters weiß ich allerdings kaum etwas“, sagt Alicia. „Die ganze Familie ist komplett stumm.“ Nur hin und wieder deutete die Großmutter an, dass die Flucht schrecklich gewesen sei und die Familie außer einiger Kilos Zucker lange nichts zu essen gehabt hätte. Als der Großvater Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und zu seiner Familie nach Düsseldorf zurückkehrte, war er offensichtlich schwer traumatisiert: Alicias Vater erzählte seiner Tochter einmal, der Großvater habe sich nach seiner Rückkehr einen Verschlag im Schlafzimmer gebaut und daran eine Klingel montiert. Alicia glaubt, dass die ersten Jahre in Königsberg, die Flucht und die Kindheit in der bedrückenden Atmosphäre des Schweigens dramatische Auswirkungen auf ihren Vater hatten: „Manchmal kam er mir vor wie ein kleines Kind in einer katatonischen Erstarrung“, reflektiert sie. „Auf emotionaler Ebene war er überhaupt nicht ansprechbar.“ Auch sein Beziehungsverhalten seianstrengend gewesen: Bereits als Kind kam er Alicia manchmal ganz nah und distanzierte sich im nächsten Moment ganz plötzlich wieder. Als sie Anfang 30 war, sah sie ihn zum letzten Mal. „Es hatte keinen Sinn. In unseren Gesprächen ging es nur um Rechtfertigungen, warum er sich nicht um mich gekümmert hätte – und Vorwürfe, dass ja auch ich mich mehr hätte bemühen können“, erklärt Alicia.
    „Trotzdem kann ich bei ihm vieles eher entschuldigen als bei meiner Mutter. Zumindest blieb er sich immer treu. Als ich ihn als Jugendliche einmal fragte, ob ich zu ihm ziehen könne, sagte er mir ganz klar, er könne das nicht. Mein Vater war immer er selbst, er hatte ein Grundgerüst. Meine Mutter hat mir durch ihre Unberechenbarkeit und ihr Desinteresse oft sehr weh getan. Man konnte sich einfach nicht auf sie verlassen. Sie bog sich die Wahrheit immer so hin, wie es ihr passte und behauptete einfach, sie hätte bestimmte Dinge nie gesagt oder getan.“
    Aufgrund ihrer frühkindlichen Kriegserfahrungen sind Alicias Eltern ganz offensichtlich emotional bedürftig geblieben. Da sie selbst vernachlässigt worden waren, blieben sie auf sich fixiert. Beziehungen führen, Empathie empfinden, Fürsorge übernehmen – diese emotionalen Kompetenzen hatten sie in den ersten schwierigen Jahren ihres Lebens offensichtlich nicht ausbilden können. Sie blieben innerlich instabil und wurzellos, konnten so auch ihre Tochter nicht angemessen emotional versorgen und gaben ihren Mangel an Alicia weiter.

    Es kostete Alicia einige Jahre und viele Anstrengungen, sich von diesen Belastungen zu befreien. Mit Mitte 20 zog sie nach Frankfurt, in die Nähe ihrer Mutter, die mittlerweile als Sozialpädagogin mit ausgrenzungsgefährdeten Jugendlichen arbeitete. Möglicherweise keimte durch die berufliche Tätigkeit der Mutter nun in Alicia unbewusst wieder die Hoffnung, die Mutter würde sich auch ihr stärker zuwenden, ein Wunsch, der sich leider nur bedingt erfüllte.
    In Frankfurt begann sie ein Studium der Sozialwirtschaft, absolvierte es mit Erfolg und fand anschließend einen Job in einer psychosozialen Beratungsstelle für Substituierte. Zum ersten Mal verdiente sie mehr, als sie ausgeben konnte – eine durchaus stabilisierende Erfahrung. Außerdem begann sie eine Therapie. „Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gelernt, mir etwas zu wünschen und mehr auf meine Bedürfnisse zu hören. Das habe ich vorher nie gekonnt“, erzählt sie. „Die Therapie war

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