Wir Kinder der Kriegskinder
Massenmorde involvierten Deutschen weit in die Hunderttausende geht.
Dennoch gibt es in den meisten deutschen Familien bis heute keine überzeugten Nationalsozialisten – geschweige denn Täter! Die Großväter waren im Krieg gewesen, weil sie mussten, die Großmütter hatten sich nicht um Politik gekümmert. Doch wo sind die vielen Sympathisanten der Nationalsozialisten geblieben? Harald Welzer ging diesem Phänomen in einer breit angelegten Studie nach und interviewte mit seinen Kolleginnen Sabine Moller und Karoline Tschuggnall „ganz normale Deutsche“ über die NS-Vergangenheit in der eigenen Familie. In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews befragten die Forscher die Familienangehörigen sowohl einzeln als auch gemeinsam nach erlebten und überlieferten Geschichten aus der NS-Vergangenheit. Dabei beobachteten Welzer und seine Kolleginnen, wie die Großeltern über ihre Erlebnisse sprachen und wie diese von den Kinder- und Enkelgenerationen interpretiert wurden. „Nicht wenige Geschichten veränderten sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenbeschützer wurden“, schreibt Welzer in seinem Buch Opa war kein Nazi.
Selbst Berichte von Morden und Erschießungen hinterließen bei den Kindern und Enkeln oft keine Spuren. Wohl aber nutzten viele Nachkommen jeden noch so entlegenen Hinweis darauf, dass ihre Großeltern etwas „Gutes“ getan hatten, um dann Versionen der Vergangenheit zu erfinden, in denen diese als couragierte Menschen auftreten: „Innerhalb der Familien beobachteten wir eine Restaurierung der tradierten, aber eigentlich längst abgelöst scheinenden Alltagstheorie, dass ‚die Nazis‘ und ‚die Deutschen‘ zwei verschiedene Generationengruppen gewesen seien, dass ,die Deutschen‘ als verführte, missbrauchte, ihrer Jugendberaubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus waren ... Paradoxerweise scheint es also gerade die gelungene Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit zu sein, die bei den Kindern und Enkeln das Bedürfnis erzeugt, die Eltern und Großeltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu platzieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt.“ Die Ambivalenz, dass der Großvater sowohl ein Täter als auch ein guter Opa gewesen sein mag, können viele Deutsche offenbar noch immer nicht aushalten.
Dass es jedoch wichtig ist, sich mit den Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit innerhalb der eigenen Familie auseinanderzusetzen, das haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Wissenschaftler belegen können. 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs begannen israelische und amerikanische Wissenschaftler erstmals, die Auswirkungen des Holocaust auf die Kinder der Überlebenden zu diskutieren. Sie stellten dabei fest: Obwohl die Kinder der „Survivors“ weit nach 1945 geboren waren, litten auch sie an Ängsten und Beklemmungen. „Die Kinder mussten ein emotionales Vakuum ausfüllen, dem sich die Überlebenden selbst nicht stellen konnten“, analysierte der israelische Psychologe Dan Bar-On in seinem Buch Furcht und Hoffnung bis zu den Enkeln des Holocaust. „Dieses Vakuum verhinderte, dass sich die Nachfahren psychisch von ihren Eltern trennen konnten.“ Die nach dem Krieg geborenen Kinder waren für ihre traumatisierten Eltern oft ein Ersatz für das, was diese in den Kriegsjahren verloren hatten: die eigenen Eltern, Geschwister, manchmal sogar frühere Kinder. Sie wurden mit Erwartungen überhäuft und konnten oft nur unter großer Mühe zu ihrer eigenen Identität finden.
Ausgehend von diesen Forschungen widmete sich Dan Bar-On in den 1990er Jahren den Familien der deutschen Täter. Er fragte sich, ob auch „auf der anderen Seite“ die Taten der Elterngeneration bei den Nachkommen Spätfolgen zeigten. Undtatsächlich: Auch hier trug die nächste Generation noch schwer an der Last der Vergangenheit. Die Kinder der Täter litten an Symptomen wie kaum benennbare Schuldgefühle und diffuse Ängste. Die stärkste generationenübergreifende Wirkung zeigte allerdings das anhaltende Schweigen in den Familien. Gerade Kinder, die aufgrund familiärer Loyalitäten die Schuld der Eltern nicht wahrhaben konnten, blieben mitunter derart in die Familiengeschichte verstrickt, dass sie selbst daran zerbrachen – hier wirkte die transgenerationale Weitergabe nicht selten sogar bis in die dritte Generation.
Ein Beispiel dafür
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